Freitag, 31. Dezember 2010

Ruten Gutsch!

... oder auch: "Ice Age 2 - jetzt taut's!"

(Seid froh, dass ich keine tauend-schmierende Hundescheiße geknipst und hochgeladen habe. Die wäre oft sehr abbildenswürdig. Wie geschickt sie sich unter das Braun der Böllerspuren schummelt!)
Auf dem teils wahrlich steinigen (s.o.), teils matschig-rutschigen Stracciatella-Weg ins neue Jahr (mein früherer Lateinlehrer hätte wohl gesagt: "glupschi et glitschi") wünscht dit Jrünzeuch seinen LeserInnen allet Jute - und vor Ort angekommen dann naturellement nur das Beste für 2011.

Dienstag, 28. Dezember 2010

Casus knaacktus

Zeichen der viel beschrienen Gentrifizierung zeigt das sich rapide wandelnde Berlin immer mehr. Die ehemals alternative, entspannte Hauptstadt der Sub-, Super-, Anti- und Unkultur und der Leben-und-leben-lassen-Atmosphäre gemäß dem Motto "Jedem Tierchen sein Pläsierchen" ist auf dem beeindruckenden Weg dahin, München in Sachen Schickimicki-Einheitsbrei-Sauberimage einen langweiligen Konkurrenzkampf zu liefern; bei rasant steigenden Eintrittspreisen für das sportliche Kräftemessen, versteht sich. Aber Dabeisein ist alles!

Wer mal wieder ein Beispiel der schillernden Art sucht, der sei an den traurigen Fall (in zweierlei Wortsinn) des Knaack-Klubs verwiesen. Nachdem in der Umgebung schon andere Stätten des Nachtlebens weichen mussten, weil zu viele Neuansässige sich über Lärm aufgeregt oder das Jungvolk effektvoll vertrieben hatten, muss nun zum Jahresende auch "das Knaack" schließen. Es tut dies atemlos: nach langem juristischem und verwalterischem Kampf und qualvollem Sterben nach Dahinsiech-Art in einer Farce aus Fristen, Kräftemessen, Fingerzeigen, technischem und baulichem Nachrüsten (natürlich nur auf Club-Seite) und starren, vernichtenden "Lärmschutz"-Auflagen [23-Uhr-Stichkontrollen und Dezibelmesser zur Zimmerlautstärke (sic!) von maximal 25 dB auf dem Tresen, etwa in kleiner Karaoke-Runde, stammten aus keiner Versteckte-Kamera-Aktion, sondern waren Realität]. Damit muss nun aber nicht ein x-beliebiger angeblicher "Szeneclub" aus der schnelllebigen, neueren Prenzl'berger Partyszene weichen, sondern eine regelrechte Traditionsstätte der städtischen Jugendkultur und ein einendes Element Berlins. Es trifft diesmal einen Club, der seit fast 60 Jahren bestand und damit trotz seiner Unspektakularität etwas Besonderes war; einen, der schon die DDR kritisiert und überlebt und Ostberliner Teenagern mit Sport, Musik und mehr eine Anlaufstelle geboten hat ("Jugendheim Ernst Knaack") und der danach dem Gesamtberliner Jungvolk sowie, generös, auch Touri-Amüsierwütigen eine bezahlbare, alternative, unkomplizierte, dresscodefreie Großdisko mit mehreren Ebenen und Stilen sowie Livekonzerte bereithielt. Der Opa unter den Jugendclubs muss dem Platz machen, was sich hinter modernen Neubaufenstern nebenan in der Heinrich-Roller-Straße verbirgt und von dort voll Abscheu hinüberlauscht: Kleingeist, Kurzsichtigkeit und Doppelmoral. Diese Geisteshaltungen wohnen gemütlich und urig in den Stirnen einer zuziehenden oder zumachenden Yuppie-Neuanwohnerschaft, die sich per Reißbrett-Empfehlung schicke Eigentumswohnungen kauft, welche in ein Amüsierviertel hineingebaut werden, direkt an eine große Disko und Konzerthalle - weil es in der Gegend ja so lebendig und aufregend und "total Berlin" ist -, und die sich dann paradoxerweise erschreckt und aufregt, dass da, huch, ein Amüsierviertel, eine große Disko und Konzerthalle, eine lebendige und aufregende Gegend und total viel Berlin sind. Dagegen muss man nach dem Erschrecken und Wundern doch irgendwas tun!

Absurderweise hatte das Ganze Erfolg. Langgezogene Kampfhandlungen, Versuche, Diskussionen, Aufregungen, Trotz oder Appelle an den gesunden Menschenverstand oder an ein zu führendes stadtteilkulturerhaltendes Kiez-Quartiersmanagement brachten nichts: Der Knaack-Fall wurde zum Kack-Fall. Ein neuer Standort konnte nicht gefunden werden. Es wäre vermutlich auch nicht mehr dasselbe.

Rest in peace! Spätzle und Rotwein, Blutwurst und Kölsch oder einfach blauweiße Karos und Alpenglühen für alle - und eine gediegene, familienfreundliche 17-Uhr-Dinnerparty mit Pianist an der Greifswalder Straße!
..., die hoffentlich bald für den Durchfahrtverkehr gesperrt wird. Ist nämlich ekelhaft laut, wie einigen neueren Anwohnern aufgefallen ist. Gerüchtehalber soll das daran liegen, dass dort sogar Autos durchfahren dürfen. Ein Unding, und das auf so einer breiten Straße! Da auch die lästigen, hässlichen, rot-gelb-grünen Lichtzeichenwechselanlagen den Schlaf, die Ästhetik und die Küsse anwesender Musen stören, muss an diesem Um- und dem allgemeinen Zustand ohnehin früher oder später etwas geändert werden.

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Kopftuchmädchen

Das Dienstleistungsgewerbe ist auch nicht mehr, was es mal war. Diplomatie und Feingefühl gehen anders. Aber Diplomatie und Feingefühl sind nicht lustig.

Die meisten Menschen gehen mit der Erwartungshaltung zum Friseur, sich hinterher besser und schöner zu fühlen. Diese Hoffnung hat Frau E. Feu längst aufgegeben. Deren Erwartungshaltung rangiert inzwischen vielmehr irgendwo zwischen Schadensminimierung, Gnade und Unterhaltung.

Munter, naiv, flott, unreflektiert, in fließendem Alltagsdeutsch und gnadenlos ehrlich plappert die mutmaßlich türkischstämmige Jungfriseurin drauflos: Ihre Cousine, die habe "auch so ein Problem, auch so ganz krass dünne und wenige Haare" (danke), aber "noch schlimmer!" (danke), die bekomme teilweise schon eine Glatze. Das sei aber für diese "sowieso noch viel schlimmer", denn: "Die ist erst 22! Die ist noch jung, wissen Sie? Wenn man noch jung ist, ist das echt scheiße. Weil, wenn man nicht mehr jung ist, also mehr so wie Sie, ist das ja eigentlich egal" (danke, danke, danke).
Eigentlich war das schon viel Pensum. Aber die Kundin lernt auch noch etwas über Integration, über Sarrazins irrige Ursachenannahmen zur Produktion gewisser Frauentypen und darüber, dass uses and gratifications nicht nur eine Herangehensweise an Mediennutzung, sondern an die Nutzung ganzer Kulturen sein können: "Das Praktische ist, die ist Muslima! Die hat jetzt einfach beschlossen, dass sie doch lieber ein Kopftuch tragen will."

Sonntag, 28. November 2010

Grünes Kleinkind

Das "Grünzeuch" ist kein Baby mehr, sondern ab dem heutigen Geburtstag ein Kleinkind: 1 Jahr gibt es nun das grüne Biomüll-Blog. Wer mag, kriegt was von der Spinattorte. Danke fürs Lesen, Gucken, Kommentieren oder schlicht Ertragen!

Sonntag, 21. November 2010

Tunnelblick (6): Bimmel-Bammel-Bahn

Die Großstadtgesellschaft ist nicht prüde. Fast schon Alltag ist es, dass Mütter gelegentlich in der Öffentlichkeit ihr Kind stillen. Weniger üblich ist es allerdings auch in Berlin, das nicht beiläufig und sachbezogen zu tun, sondern ostentativ. Eine, um alle Vorurteile zu zerstreuen, nicht gerade dem Ökomutter-Klischee entsprechende Frau - sehr hochgewachsen, mit blonder Mähne und High Heels, geschminkt, durchgestylt und betont hip und sexy gekleidet - findet es in der vollbesetzten, stickigen U8 offenbar estrebenswert, sich in aller schneckenartigen Seelenruhe zu entblößen und ihre geschwollene Brust erst noch umständlich herumzuzeigen, ehe sie sie ihrem auffallend niedlichen Baby in den Mund stopft. Einem Baby wohlgemerkt, das zuvor nicht gerade den Eindruck erweckte, akut hungrig oder sonstwie unleidlich zu sein, sondern das glücklich gluckst. Entsprechend ist der Kleine auch reichlich schnell abzulenken: Seine Faszination, rückenliegend den Blick aufwärts gerichtet, gilt bald den über ihm baumelnden Haltegriff-Schlaufen, die angesichts des rasanten Fahrstils der Bahn und der formeleinsartigen Kurvenlage wild schaukeln. Er quiekt vor Begeisterung und zeigt darauf. Der Bengel kriegt offenbar immer sofort, was er will; jedenfalls steht Mama umgehend auf und hebt ihn zu den lustig pendelnden Schlaufen empor, auf dass der Zwerg ekstatisch quietschend danach greife. Da sie es nicht für nötig hält, vorher wenigstens noch ihren Busen wieder einzupacken, hängt dieser derweil vor den dicht gedrängt umstehenden Männern herum. Die anständigerweise nicht ekstatisch quietschend danach greifen.

Mittwoch, 3. November 2010

Frieda, Freddy & Fifty Fifis

Was genau will diese Schaufensterdekoration in einem Friseur- und Kosmetikladen dem interessierten Kunstfan sagen?
Diese beiden Zuchtrasse-Schoßfifis sind nur 50% Hund?
Der richtige Köter macht schon 50% des Stylings aus?
Eine gute Hundefrisur ist die halbe Miete?
Einkaufstüten jetzt 50% reduziert?
Einkaufstüten in diesem Laden haben zu 50% irgendwelche Hunde drauf?
Alle gebrauchten Einkaufstüten mit Hunden drauf jetzt für die Hälfte?
Alle gebrauchten Einkaufstüten jetzt für die Hälfte, aber nur für Hunde?
Alle Friedas & Freddies sind hundsgemeine falsche Fuffziger?
50% unseres Umsatzes machen wir mit Tüten?
Hunde erhalten dicke Rabatte auf Friseur- und Kosmetikleistungen, aber mehr als 50 Prozent kommen absolut nich inne Tüte?
50% der Hinterlassenschaften von Vierbeinern pro Tag passen in eine Einkaufstüte?
50% aller Auf-dem-Arm-hätschel-Hündchen heißen Frieda oder Freddy und passen in eine Einkaufstüte?
50% der KundInnen dieses Geschäftes tragen die Haarfarbe "Straßenköter" und sind ständig angetütert?
50% in diesem Laden wurden von Friedas und Freddies Hunden bepinkelt?

Sonntag, 31. Oktober 2010

Hello, Wien!

Man kann sich ja ab und zu mal mit den vielgeschmähten Ösis solidarisieren. Nicht nur, weil auch Wien ein Monster-Hauptbahnhof-Bauprojekt hat und die kontrapunktische Gegenüberstellung mit Stuttgart 21 lustig ist (unter anderem, weil sie so hübsche Tücken birgt). Sondern auch noch wegen einer anderen Sache, die weniger mit Bahnhöfen (höchstens mit Nur-Bahnhof-Verstehen), mehr dagegen aber mit Monstern und Projekten zu tun hat: Die Schluchtenscheißer, selbst in der weltoffenen Großstadt, können laut Umfragen noch weniger als wir hier anfangen mit dem zunehmend um sich greifenden Trend, Halloween zu feiern ("Die meisten Anhänger hat Halloween der Umfrage zufolge im Rheinland." - wie das wohl erklärbar ist?). Oder auch Samhain. Oder was auch immer. Jedenfalls dieses komische Totenfest, das selbstverständlich als die nordamerikanische Variante mit Kürbissen und Gruselkram daherkommt. Jetzt noch einmal auf die böse, böse Kommerzialisierung gespuckt und auf die Neigung speziell der Jugend, einfach Party-Anlässe zu suchen! Allerheiligen/Allerseelen feiern wäre doch viel kultiger für so'n 16-jährigen Hobby-Gothicfan.

Kommerzialisierung? Party only? Ach was!
In miesester Qualität illustriert dieser bei Dämmerlicht vom Handy im Vorbeifahren gemachte Schnappschuss den Brüller des Kommerzes in einer Metropole, die unter anderem keine Faschingstradition hat und sich eigentlich nur zu politischen Zwecken vermummen mag: Vor "Deko Behrendt" in Schöneberg, einem Taschengeldgrab meiner Kindheit und dem ebenso unscheinbaren wie z.Z. einzigen wirklich bekannten Berliner Laden, der ganzjährig Dekorationen, Kostümierungen und Zubehör aller Preisklassen führt, bildete sich in den letzten Tagen wieder eine anstehende Menschentraube, als gebe es Freibier, und die Notwendigkeit einer Türkontrolle. Leider nicht mit auf dem Bild sind die geschätzt 30 Meter, die die Schlange links aus dem Bild hinaus noch weiterging. Na dann frohes Gruseln!

Montag, 25. Oktober 2010

Sternstunden

In kalten Zeiten braucht das Volk warme Botschaften.
Nüscht is' mit tanzenden Buntblättern und güldener Oktobersonne. Doch nicht nur wettertechnisch wird man erneut um den Herbst betrogen und soll wieder direkt vom Sommer in den Winter springen: Seit mindestens einer Woche (hat jemand frühere Belege? Dabei rede ich nicht von ein paar schüchternen Lebkuchen und Dominosteinen) ist es wieder so weit - die Unaussprechlichkeit naht allzu sichtbar! Jedenfalls auf dem heißen Pflaster touristisch interessanter Orte. Berlin befindet sich bereits Mitte Oktober im Deko-Rausch.




Und jetzt, wie auf anderen Volksfesten, alle laut mitsingen:

"Ein Stern, der kein Erbarmen trägt..."







Sicher steckt hinter dem frühen Folklorekitsch gezielter Psychoterror zur Mürbe(teig)machung.
Abwarten und Tee trinken!

Mittwoch, 13. Oktober 2010

Die Eleganz der Fruchtfliegen

Wie sehr doch die Mehrheitsmeinung eigenes Empfinden und Urteilen indoktriniert! Eigentlich sind sie ekelhaft. Widerliche Biester. Lästig. Ein Haushaltsalptraum, wenn auch weniger nachhaltig als beispielsweise Mehlmotten. Man darf sie nicht mögen: Frucht- oder auch Obstfliegen bzw., offiziell-biologisch, Taufliegen (mit dem gedachten Trennstrich nach dem U, nicht nach dem F, Tauf-Liegen empfiehlt sich in geweihten Becken).

Bei näherem Betrachten und Bedenken stellt sich allerdings die Frage, warum. Und ob wir da nicht einem alltäglichen Rassismus aufsitzen, der uns beispielweise eine Hummel knuffig, eine Libelle anmutig und einen Schmetterling hübsch finden lässt - während ebendiese doch, genauer betrachtet (mindestens von ihrer Unterseite her), auch nicht gerade KandidatInnen für Heidi Klum sind und mindestens die beiden Erstgenannten einem auch Schaden zufügen können.

Drosophila melanogaster hingegen sollte uns eine Freundin sein; altvertraut und ans Herz gewachsen, seit wir sie (meist in der 10. Klasse) im Biologieunterricht kreuzen sollten - sei es real oder nur auf dem Papier -, um die Mendelschen Regeln der Genetik bzw. Vererbung zu verstehen und anzuwenden am Beispiel "rotäugig und langflügelig" versus "weißäugig und kümmerflügelig".
 Wer nun ein einziges Mal - aufmerksam, empathisch, offenen Herzens und erkennend - unter dem Mikroskop in ihre in der Gefangenschaft gramgezeichneten und beschämten, vielleicht auch dadurch rotgeweinten Augen geblickt hat, erkennt diesen Ausdruck mit konzentriertem Hinsehen und gut angepassten Kontaktlinsen auch ohne weitere technische Hilfsmittel ein Leben lang stets wieder, wenn er sie irgendwo sitzen sieht: auf dem Obst, dem Gemüse, der Mülltüte, der Wand oder dem Schrank. Diesen tief ins Herz zielenden, von elegantem Pseudowimpernaufschlag begleiteten Blick kann man nicht vergessen, zeigt er doch ihr tiefes Leid gesellschaftlich geschmähter, niederer Existenz, die nur durch Nutzen für die Forschung Bestätigung erfährt, bei gleichzeitig bewundernswerter Genügsamkeit und Anpassungsfähigkeit. Bei manchen soll es Liebe auf den ersten, glasigen Augen-Blick gewesen sein. Keine Liebe, die glücklich verlaufen wird, lebt doch ein Mensch meist deutlich länger. Auch wenn es einem bei der Fruchtfliege gelegentlich nicht so vorkommt.
Ich schau dir in die Augen, Kleines.
Zur Genügsamkeit und Anpassungsfähigkeit gesellen sich bei Drosophila (nach der Schlechtschreibverform nun vielleicht Drosofila - ein lukrativer Werbevertrag für Sportschuhe würde winken, speziell, da es sechs Füße zu bestücken gäbe - hätte sie derer nur nicht so unkompatibel kleine! Aber vielleicht lässt sich da genetisch was machen, Mutation für Fortgeschrittene) noch weitere sehr bewundernswerte Eigenschaften.

Ihr kurzes Leben und ihre gesellschaftliche Ächtung nimmt sie als Schicksal hin und macht das Beste daraus. Begleitet wird dies von einer sogartigen, intensiven und darin ostseegleich schönen Melancholie, die die Erkenntnis der ungeheuer rapiden eigenen Vergänglichkeit mit sich bringt. Der Name "Taufliege" trifft, denn sie vermittelt dieselbe Mischung aus Leichtigkeit, Neuerschaffung und Beschwernis. Die Fruchtfliege leidet nicht. Sie ist. Und isst. Sie stirbt ruhig, wartend, würdevoll; summt nicht dramatisch herum oder zappelt auf dem Rücken, sie sitzt still und hört einfach auf zu leben. Sie erschafft Populationen, ja ganze Staaten, in Windeseile. Gleichsam ignoriert sie ihn, den Wind, und macht auch keinen. Die Schwerkraft hat sie überwunden. Ihre anmutige Geschwindigkeit sowie komplette Geräusch- und Mühelosigkeit, mit der sie scheinbar körperlos aus dem Stand heraus abhebt und in einem rotäugigen Blinzeln eine große Strecke zurücklegt, in ebendiesem Stil auch wieder irgendwo landet, vermittelt fast den Eindruck des Beamens, neppt die menschliche Wahrnehmung und ist nur mit purer Eleganz zu beschreiben. Die Stille, mit der ihr Leben vonstatten geht - sei es im Essen, Lieben oder Sterben -, beeindruckt. Mit ungeheurem Instinkt und lautloser Zielstrebigkeit findet sie alles vermeintlich Essbare und verwandelt es gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern im Essensprozess kreativ in etwas anderes, führt es in einen neuen Seinszustand über, skulpturiert es. Drosophila macht Kunst und ist immer in Bewegung. Selbst wenn sie stillsitzt. Es bewegen sich dann ihr Geist und ihre karmaseitig hell leuchtende Seele. Das Denkwerk, drosophilosophische Theorie, ist leider nie überliefert worden, da sich niemand die Mühe macht, ihre geräusch- und gebärdenarme Sprache zu lernen, und abstrakt oder telepathisch kein Mensch je ihre Ebene erreichte.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Freistunde

Sushi ist lecker. Viel Sushi ist viel lecker. Im Idealfall zumindest. Dieses komische Ding namens Kultur hängt eigentlich auch noch mit dran, aber (nicht nur) der Deutsche tickt gern nach dem Prinzip "Quantität vor Qualität". Glück ist, wenn sich beides nicht ausschließt. Beim All-you-can-eat-Buffet benehmen sich aber Zeitgenossen gern mal daneben. Ellbogengesellschaftsartiges Hamstern pro Buffetgang, sobald etwas Neues hingestellt wird, nach dem Motto "Nach mir die Sintflut" sowie streng nach dem wissenschaftlichen Forschungsinteresse "Wie viele Happen lassen sich auf einem Miniteller stapeln?", ist auf der Tagesordnung. Auch das ist ein Grund, es sich mal anzutun: Denn man kann dabei hervorragend Menschen studieren.

Teil eines lecker-bunten Treibens waren jüngst neun(!) an einen Tisch gequetschte, sehr junge AsiatInnen; mutmaßlich SchülerInnen oder Frischlingsstudis. Sie tranken nichts, plünderten nur das Buffet. Während ihres höchst geselligen Futterns und Quasselns ließ sich rätseln, welcher Herkunft sie waren; Efeu tippt aufgrund Tonfall und Physiognomie am ehesten auf KoreanerInnen (3 betont süße Mädels, 6 zum Teil beeindruckend nerdige Typen). Ihr Stimmgewirr blieb konstant angeregt sowie rätselhaft. Um kurz vor 21 Uhr richtete plötzlich einer, offensichtlich der hier Lebende und von den anderen Besuchte in der Gruppe, angesichts des lange nicht mehr nachgefüllten Buffets auf Deutsch eine - zunächst sehr höfliche -, Frage gen Tresen hinüber an den Küchenmeister: ob da nicht noch anderes Sushi nachkommen werde?! Dieser machte eine abwehrend-abwinkende Geste und verneinte knapp. Wie aus der Pistole geschossen kam es da in bestem berlinischen Stil (Wortwahl, Tonfall, Spontaneität, Bissigkeit, Ironie und Humortyp) - Sarrazin wäre vielleicht begeistert über so viel Integration - vom jungen Gast zurück: "Oh, schön! Bis 22 Uhr is offen, dann hamse ja jetz 'ne Stunde frei!"

Mittwoch, 29. September 2010

Take Five

Es jazzt im Sozialstaate Deutschland: Angesichts der sehnlichst erwarteten, üppigen, vielbejubelten Hartz-IV-Erhöhung um stolze 5 Euro monatlich kommt man durchaus ins Summen, Singen und Swingen. Die einen dank plötzlich eintretender Konsummöglichkeit und Teilhabe an der Gesellschaft, die anderen, weil sie das gute und stolze Gefühl haben, endlich in einem gerechten Staat zu leben, der Würde garantiert, egal was das Schicksal mit einem anstellt. Zukunftsängste braucht nun keiner mehr zu haben. Nun wird gemeinsam und solidarisch gejammt, gefreestylet, improvisiert und Ideen zusammengetragen, was man von dieser Summe jeden Monat alles kaufen oder machen kann! Ideen finden sich etwa hier oder hier oder hier. Vielleicht kann man, je nach Gegend, dafür sogar seinen Müll loswerden. Das ist speziell interessant, falls man vorher von seinen 5 Euro (unter Zuhilfenahme der im Regelsatz dafür vorgesehenen 27,41 Euro) Berge von neuen Elektrogeräten angespart hat und nun nicht weiß, wohin mit den ganzen alten. Man könnte kochen lernen. Man könnte vom eigenen Wohlstand was abgeben und woanders eine Schulbildung finanzieren. Oder noch 95 Cent ansparen (bzw. den immensen Kulturbeitrag im Regelsatz mitnutzen - mal ein Buch!) und dafür lernen, wie man dauerhaft spart und auch noch die Welt retten kann. Gut wäre auch, nochmal studieren zu gehen und die 5 Euro davor schon für die Karriere beiseite zu legen, um Unternehmer/in zu werden und Arbeitsplätze zu schaffen. Oder man hat für die 5 Euro einfach geilen Frustabbau auf Kosten derjenigen, die noch nicht einmal Hartz IV oder sonst irgendeine Würde erhalten... Weitere Vorschläge, Rechenbeispiele und Prioritäten gerne über die Kommentarfunktion.

Montag, 27. September 2010

Herds of Nerds

Die Berliner Veranstaltungsort-Landschaft ist ein Kosmos für sich. Funktion trifft Freaks und Fete, Konvention trifft Indie und etepetete. In Friedrichshain heißt ein Teil dieses Kosmos sogar so. Kurz vor dem Frankfurter Tor sitzt das Ungetüm, das früher das größte Kino der DDR, in den 90ern dann mal Berlins erstes richtiges Multiplex war - und nun als "Wir greifen sie alle ab!"-Transformerspielzeug sein Dasein fristet; irgendwo zwischen aufgemöbelter Mehrzweckhalle, Tagungszentrum, Biergarten mit "Public Viewing" und wochenendlicher Großraumdisko für sehr junge Menschen einheitlichen äußeren Stils, die gern zu einem Mix aus House und alten wie neuen Charts tanzen und vor allem posieren.

Letzten Sonntag gab es dort ein Publikum, das deutlich vom sonstigen abwich, auch wenn es ebenfalls zu einer seltsamen - anderen - Art von Vereinheitlichung neigte; natürlich mit der üblichen "Yes, we're all individuals"-Anmutung dabei. Anlass war eine Record-Release-Party der nächsten und in diesem Falle spezielleren, da drei Teile und Versionen umfassenden, Folge der von vielen kultisch verehrten Hörspielreihe "Die drei Fragezeichen" (jaaaaa doch, die korrekte Schreibweise ist: Die Drei ???). Kongenialerweise in dieser Örtlichkeit veranstaltet; denn die Hörspiele verlegt "Europa", die dazugehörigen Bücher und sonstiges Merchandising jedoch der "Kosmos"-Verlag. Hinter der Veranstaltung steckte natürlich die Lauscherlounge, in deren Gestalt sich Justus-Jonas-Sprecher Oliver Rohrbeck quasi beständig selbst huldigt, während er regelmäßig Gutes für Hörfans und Hörspielschaffende tut.

Verteilt auf drei verschiedene Säle und unter dortiger Anwesenheit des jeweiligen Original-Detektiv-Sprechers hörten die Gäste entweder die Version von Justus, von Peter oder von Bob. Anschließend gab es im großen Saal statt Clubszene mal Blubbszene: Die drei Sprecher interpretierten als Extra-Gimmick via Bühne und Leinwand ein kleines, etwa 30-minütiges, unveröffentlichtes und nicht wirklich ernst gemeintes Livehörspiel und erzeugten teils auch die Geräusche dazu selbst. Die Ausrede, sie läsen den kompletten Text just(us) zum ersten Mal, will man mal wohlwollend gelten lassen für zunehmendes Fadenentgleiten, Aus-der-Rolle-Fallen und Wirrerwerden gen Ende. Zumal es dem Unterhaltungswert keinen Abbruch tat und diesen zweiten Teil zum eigentlich lohnenderen des Abends machte. Lohnend jedoch nicht deswegen, weil die Herren anschließend noch Tombola-Gewinner zogen.


("Record Release Party" unter kreischenden Fans. Keine Kinder.)


(Diesmal kein Weltrekord: Verglichen mit diesem ekstatischen Waldbühnen-Massengekreische war's im "Kosmos" gemütlich!)
 
Das Ganze hätte eine gelungene Veranstaltung sein können. Wäre da nicht die unsägliche Organisation seitens des Kosmos gewesen. Zum Konzept gehörte nämlich u.a. auch, die Leute per Ankündigung "Einlass ab 18 Uhr" in Kombination mit freier Platzwahl zum Frühkommen und Schlangestehen zu bewegen - und dann im strömenden Regen stehen zu lassen. Nicht etwa ein paar gnädige Minuten vor sechs öffneten sich die Tore, nein, sondern 20 Minuten später, und dann im Schneckentempo, da genau eine Tür und ein Mitarbeiter offen waren, Letzterer allerdings wohl vorwiegend rektal, speziell was pampige Reaktionen, betont langsames Tempo und dreiste Lügen ("Es ist doch seit sechs, spätestens fünf nach sechs, Einlass!" - seltsam, hätte man das, auf ebendies lauernd, nicht um 18:05 Uhr gemerkt?) anging. Als Krönung hüpfte eine vergnügte Enie van de Meiklokjes mit einem kleinen Kamerateam um die sich in mehrere Schlaufen legende Schlange herum - eine dumpfe Ahnung machte sich breit, dass im "Bericht" nur Positives, nur ein Bejubeln der beeindruckenden Zahl an Interessenten für ein solches Event auftauchen würde. Dabei hätte sich der eine oder andere zutiefst angefressene, berlinisch hervorgefluchte O-Ton aufgedrängt, und sei's als Gegenwehr gegen Enies Berufsjugendlichkeit und betont lustige Überdrehtheit.
Nach fast einer Stunde Einregnen (das hält kein Schirm aus, ohne durchzuweichen) und Pfützenstehen dann endlich im trockenen Foyer angekommen, hielt sich der Spaß leider angesichts kompletter Durchnässung etwas in Grenzen und wollte sich auch den Rest des Abends nicht bedingungslos einstellen. Der Erkältung ins hämische Antlitz zu sehen, während man auf kaltem Steinfußboden sitzt, macht irgendwie schlechte Laune. Da riss es auch die Phase im bemerkenswert gemütlichen, leider aber kühl klimatisierten Kinosessel (Raum "Peter"!) nicht heraus.

Die eigentliche Attraktion war aber ohnehin etwas anderes: das Publikum. Wie bereits angedeutet handelte es sich um eine beeindruckende Spezies Mensch. Das Thema Barrierefreiheit für Seh- und Mehrfachbehinderte mal außen vor gelassen: Schillernd belegt wurde, dass Nerdtum sich nicht allein durch Computersitzen/-spielen oder andere vermeintlich junge bzw. zeitgenössischmediale, aber das Individuum isolierende Trends auszeichnen muss. Sollten Nerds sich gelegentlich auch häufen, anstatt nur, wie das Klischee es besagt, als sozial vereinsamte Randfigur im stillen Kämmerlein vorsichhinzufreaken, so war an der Frankfurter Allee irgendwo ein Nest. Ein sogenannter Nerd-Herd. Dieser ergab eine ganze Nerd-Herde oder gleich mehrere davon. Sie versammelten sich mysteriös. Es wogte ein Meer aus Fanshirts, schüchternen Autogrammjägern, skurrilen Gestalten, Alles-auswendig-Kennern, frenetischem Bekreischen, Gruppenjubel, Devotionalienjägern, verscheuklappten Ellbogen-raus-und-durch-wohin-auch-immer-Egomanen, Einzelgängern, Einzelkämpfern, selbstgebastelten Motto-Utensilien (ein Highlight: Fragezeichen-Ohrringe aus Fimo!) und Gutenachtgeschichte-Junkies mit Hang zur Kindheitsnostalgie. Kinder indes waren so gut wie keine anwesend. Auf die zielte das Ganze auch überhaupt nicht ab, obwohl die Hörspielreihe sie ja eigentlich als Hauptzielgruppe hat(te). War die Kindheitssehnsucht echt? Es drängt sich der Verdacht auf, dass gerade auch im Bereich der sogenannten Alten Medien und vielzitierten Retro-Trends mehr und mehr ein Kult allein schon aus dem Aus-etwas-einen-Kult-Machen gemacht wird.

Montag, 20. September 2010

Aggro Benzin

Für die immerselbe Platte, die einen Sprung hat, sollte man ein neues Plattenlabel gründen: "Aggro Benzin". Dort könnte man auch lustig immer weiter Öl ins Feuer gießen (lassen). Ob Benzin oder anderes auf -zin: beides schlecht fürs Klima! Dabei erzeugt Aggression bei mir langsam Gegenaggression - gegen die Dummheit. Auch wenn diese die Dummheit wiederum ganz anderen vorwirft. Aber das liegt sicher nur am mangelnden Verständnis; mich hat sicher auch nur die migrantisch-islamisierte Welt verdooft, womöglich trotz ein paar 15% intelligenteren jüdischen Genen.

Top-Hassphrasen der letzten Zeit, die ich einfach nicht mehr hören kann (die Phrasen, nicht die Zeit):

- Man wird doch nochmal seine Meinung sagen dürfen.
- Die Wahrheit darf man in diesem Land ja nicht ansprechen.
- Die Wahrheit wird immer verschwiegen, damit wir nicht aufmucken.
- Wir leben ja in einer Meinungsdiktatur.
- Die Medien schreiben uns vor, was wir sagen und denken sollen.
- Die Medien sind alle links.
- Die Alt-68er sind schuld. Dieser Kuschelkurs hat zu nichts geführt.
- Multikulti ist doch längst gescheitert.
- Wenn mal einer die Dinge beim Namen nennt, wird er gleich in die Nazi-Ecke gestellt.
- Man ist doch kein Rassist, nur weil man mal sagt, wie es ist.
- Man muss einfach mal den Druck erhöhen.
- Er hat Zahlen für alles, was er sagt.
- Das kann man nicht wegdiskutieren. Das sind einfach alles Fakten!
- Das ist alles wissenschaftlich belegt.
- Die da oben kennen doch die Realität nicht.
- Woanders fliegt man auch raus, wenn man keine Arbeit hat, sich nicht integriert und kriminell ist.
- Das ist vielleicht nicht nett, wie er das sagt, aber es stimmt ja. Er hat es überprüft und durchgerechnet.
- Du würdest dein Kind auch nicht auf eine Schule mit lauter Ausländern schicken.
- Das ist nunmal so, dass alle immer dümmer werden. Wo soll es denn herkommen?
- Wir müssen Eliten schaffen und keine Schmarotzer mit durchfüttern.
- Die kommen doch nur hierher, weil unser Sozialsystem so toll ist.
- Die wollen sich ja alle gar nicht integrieren.
- Sollen halt arbeiten gehen und Deutsch lernen.
- Die Mehrheit steht doch hinter ihm.
- Endlich spricht das mal einer aus, was alle denken.
- Der tut mir leid, alle hacken nun auf ihm rum, das ist nicht fair.
- Sollen die Kritiker doch selber ein besseres Buch schreiben.
- Mein Nachbar/Kollege/... sieht das auch alles so, und der ist selber Türke.
- Der Sarrazin ist mutig. Sonst traut sich ja nur keiner, weil alle Angst haben.
- Wenn es alles so falsch wäre, warum ist dann das Buch ausverkauft?

Danke, Thilo, du alter Sarrazenerfürst! Allah sei mit dir!
Und mit dem plattenlabeleigenen Phrasenschwein; das sollte man jedes Mal reihum füttern lassen (auch bei nicht ganz wortgleichen, aber sehr wortähnlichen Grunzabfolgen). Vielleicht reicht das somit Gesammelte dann irgendwann, um dir armem Schlucker eine Premium-Psychotherapie zu spendieren.

Samstag, 11. September 2010

Für Ly

Penis.

Mittwoch, 8. September 2010

Glänzendes aufgelegt

Die Faszination des Bösen hat mal wieder gesiegt. Am Sonntag traute ich mich auf das Badstraßenfest, Verzeihung, auf das "Herbstfest" in der Weddinger Badstraße (whatta bad street). Zwischen mit dem Kopf nickenden, quietschenden, batteriebetriebenen Plüschhunden und den unvermeidlichen luftgefüllten Etwassen prangte Bekleidung vom anderen Stern und auch sonst ein Festival des schlechten Geschmacks.
Auf den ersten Blick war das Ganze ein gefundenes Fressen für die Multikultikritiker dieser Tage; auf den zweiten aber eigentlich mehr für die Multikultikritikerkritiker. Denn die geschätzt 90 Prozent "Menschen mit Migrationshintergrund" wirkten im Durchschnitt friedlicher, geistvoller und integrierter als die wenigen anwesenden "Deutschen" (zudem: Wie viel deutscher und am Gemeinleben interessierter kann man noch werden, als auf ein Stadtteilfest zu gehen? Auf dass die Kinder die Hüpfburg bevölkern und man sich bei Wurst, Zuckerwatte und Schlager an der Bierbühne trifft?). Ein deutsches Highlight war ein dicker, alter, leer glotzender Suffspießer, der seinen wabbelnden Bierbauch spazierentrug in einem T-Shirt mit der Aufschrift: "Ich bin Angler! Willst du meinen Wurm sehen?" Oh ja, dringend, kann mich kaum halten.

Beeindruckt hat mich aber dieser Stand mit türkischen oder arabischen Importen:
Zahnarzt-Utensilien wie Winkelspiegelchen: okay. Jedem seine eigene, praktisch angelegte Phobiebewältigung. Warum zum Geier aber ein Speculum und andere gynäkologische Folterinstrumente? Auf einem Familienstraßenfest passte das prima zwischen die Batteriehunde. Man muss also nicht mehr auf Fachmessen schlurfen, weder als Medicus noch als BDSM-Szenegänger. Das nenne ich wahre Toleranz und Integration von Subkulturen - und bin, äh, ergriffen. Vaginalapplizierte Grüße zur Wochenmitte.

Samstag, 4. September 2010

Tunnelblick (5): Das Beste aus sich herausholen

Die Welt unter Tage ist eine Welt über Grenzen. Im Untergrund sind die Menschen eine große Familie: offen, locker, zutraulich. Sie haben keinerlei falsche Scham voreinander. Auch keine natürliche (soweit in der Zivilisation noch irgendwas natürlich ist) - wie die folgenden beiden Begebenheiten aus den vergangenen heißeren Tagen zeigen.

(1)
Am Hermannplatz tummeln sich ja immer verschiedenartigste Existenzen, tobt stets das pralle Leben, positiv wie negativ; die einen Existenzen praller, die anderen nüchterner, wieder andere lebender. Auf dem Bahnsteig der U8 ist es heuer besonders voll, denn es herrscht "unregelmäßiger Zugverkehr" - und das zur morgendlichen Rush Hour. Dicht an dicht stehen in der Sommerhitze die Körper der Wartenden, während ihre Geister sich gerade mit sonstwas beschäftigen - Hauptsache ablenken von der Zeitbedrängnis, der Hitze, der schlechten Luft, dem Körper. Manche schlängeln sich durch, um nervös auf und ab zu gehen. Die meisten stehen still und atmen einfach nur schwer. Mitten hinein in diese Meute stellt sich einer, um die 40, der dem Begriff "Überhöhung" eine neue Pointe gibt. Er ist offenbar deutlich über zwei Meter groß, alle Umstehenden überragt er um mindestens einen Kopf. Das Begafftwerden und Herausragen unterstreicht er aber selbstbewusst mit einem knallroten T-Shirt, das neonfarbene Musterungen im 80er-Jahre-Stil trägt und die betont seriöse Aktentasche in seiner rechten Hand zu persiflieren scheint. Leuchtend thront die Erscheinung über dem sonstigen Menschenbrei. Der Mann ist wie eine menschliche Boje, ein Leuchtturm, ein Treffpunkt, falls jemand im Gewühl seine Kinder verlieren sollte oder seine morgendliche Weggefährten-Verabredung nicht findet. Auch für Wandertage, Ausflügler und pauschalreisende Touristengruppen eignet er sich: "Wir sammeln uns an dem großen Mann mit dem Signal-Shirt."
Plötzlich fährt dieser Blickfang, gänzlich gelassen bleibend, die nicht mit Aktentaschetragen beschäftigte, freie Hand aus - und führt den Zeigefinger zum Gesicht. Ah, der Leuchtturm wird gereinigt. Genüsslich, minutenlang, freimütig, ausgiebig, unbeirrt und vor allem beeindruckend tief bohrt er mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit in der Nase, hoch über den Häuptern, tiefgründig mal morgendlich in sich gehend - bis die U-Bahn endlich kommt. Seltsam: Die Meute drängelt zu den Türen, doch nur wenige Menschen steigen an derselben Tür ein, die der dieser anonymen Masse endlich eine Orientierung gebende menschliche Treffpunkt mit seiner linken Hand öffnet.

(2)
Probleme mit Öffentlichkeit hat auch der junge Mann nicht, der am frühen Abend U2 fährt und sich ebenfalls sehr selbstbewusst mit seiner Körperlichkeit auseinandersetzt. Ein gutes Feeling hat er dabei aber offenbar nicht so sehr, vielmehr Probleme mit seiner Hülle. Er fühlt sich sichtlich nicht wohl in seiner Haut. Extrem breitbeinig sitzt er da und belegt damit zwei Plätze, ein eigentlich ebenso häufiger wie nervtötender Macho-Habitus auf öffentlichen Sitzgelegenheiten. Über viele Minuten hinweg zupft und kratzt und sortiert er jedoch unglücklich in seinem Schritt umher, Gesichtsausdruck: irgendwo zwischen schmerzhaft, prüfend, zweifelnd, unsicher, herzeigend und stolz. Die Hose hängt tief, die Hose hängt weit - aber einengen kann sie offenbar dennoch. Oder der Sitz der Kronjuwelen ist an sich und von Natur aus einfach ständig unzufriedenstellend. Oder nur deren angemessene Präsentation? Nach geschätzt vier Stationen des verschiedentlichen, ungenierten Sortierens und Umordnens - vermutlich hat er längst Seemannsknoten fabriziert - entscheidet er sich für den Frontalangriff: Nur kurz sieht er sich um, prüft die Mitreisenden mit knappen Blicken (was war Gegenstand des Prüfens? Anzahl, Gefahr, Gaff-Faktor, Attraktivitätsgrad, Fernsehkamerapräsenz?), befindet offenbar die immerhin mittelmäßig gefüllte Bahn für angemessen unpeinlich - und knöpft kurzerhand die Jeans auf. Nach diesmal nur einer Station erfährt er Genugtuung und kann das Kratzen und Ordnen einstellen. In medias res sortiert es sich einfach effektiver. Danach guckt er auch viel entspannter für den Rest der Fahrt. Seine Boxershorts sind fliederlila und zeigen das Lächeln der Mona Lisa, nein, es ist Marge Simpson.

Mittwoch, 1. September 2010

Tunnelblick (4): Aufpassen statt anpassen!

(1)
Spät, dunkel, klebrig und ziemlich tempelhof ist es im strömenden Regen. An der Nachtbushaltestelle am Platz der Luftbrücke lassen sich zwei aufgekratzte Provinzmädels von einem ordentlich auftrumpfenden, betont lässigen Coolio um die 20 volllabern. Aus dem laut geführten Flirtgespräch ergibt sich, selbst wenn man nicht lauschen will, dass mindestens eine davon aus Bielefeld auf Berlinbesuch ist. Der Kontrast ist groß. Ihre Freundin hüpft eher tussig und overstyled in einem roten Kleid, Feinstrümpfen und Pumps durch die Gegend, sie selbst jedoch macht auf öko, alternativ, Protest und Rastafarian: Dreadlocks, Schlabberklamotten, Piercings - und barfuß. Vielleicht machen das in Bielefeld die jungen Hipsters so. Kann sein, dass es da weder Pfützen noch Dreck noch Hundescheiße auf öffentlichen Straßen gibt. Während ihre Zehen anmutig mit Matsch, Rotz, aufgeweichten Zigarettenkippen und Brackwasser spielen, gibt der Berliner ihr ganz weltmännisch Ausgeh- und Chilltipps. Als der Bus kommt, glotzt ihr nicht nur der Busfahrer hypnotisiert auf die Füße (verkneift sich aber, sehr untypisch für diese Spezies, sichtlich mühsam jeden Kommentar), sondern steigt sie nach minutenlangem, angeregtem Gespräch ohne jede Verabschiedung vom flirtenden Coolio ein. Kein Wort des Grußes und kein Blick; sein "Viel Spaß noch!" geht ins Leere. Falls Bielefeld entgegen allen Verschwörungstheorien doch existiert, dann tragen die Menschen dort leidvolle psychische Folgen ihrer ständigen Infragestellung davon.

(2)
Auf dem abendlichen, dennoch sehr schwülen Bahnsteig der U9 am Zoo muss man sich von der Masse absetzen. Die junge Frau mit dem perfekten Make-up und den Vorzeige-Boutiqueklamotten beherrscht das: Sie konterkariert ihr am Oberkörper betont businesshaftes, hochgeschlossenes Outfit (weiße Bluse, Strickweste, Blazer) mit Highheels-Sandaletten mit 10-cm-Absatz und Plateau, durch die knallrot lackierte Zehnägel blitzen und über denen sie die zu eng sitzende Stretch-Jeansleggings umgekrempelt hat, damit man auch sieht, dass das exzentrische Schuhwerk bis über die Knöchel hochreicht. Sexy. Neben einer normalen Umhängetasche trägt sie das bekannte, sehr dicke, rote Kompaktbuch (mit bunten Post-its in den lesenswerten Seiten markiert) mit sich herum, das man so schön mit Ergänzungslieferungen seitenweise nachbeheften kann - damit auch jeder weiß und sieht, dass sie Jura studiert. Die Aufschrift "Schönfelder, Deutsche Gesetze, Textsammlung" kann man allerdings nicht lesen, sondern nur wissen, denn sie ist kreativ: Von außen hat sie das Buch beklebt, eingeschlagen mit einem Stoffeinband im gleichen Rot mit selbstgebastelten Henkeln: So kann sie es - die mit Lesezeichen versehene Seitenkante nach oben - stylish als Handtasche herumtragen. In der Bahn schlägt sie das rote Täschchen auch demonstrativ auf und beginnt, mit wichtigem Gesichtsausdruck darin herumzublättern. Das Abheben von der Masse funktioniert: Die Umsitzenden bieten die ganze Belustigungs-Bandbreite von dezent schmunzelnd bis sich gegenseitig breit anfeixend; wirkt die Dame doch ebenso sehr einem Möchtegern-"Sex and the city"-Set entlaufen wie deplaziert an dieser Stelle.
Antipodisch besteigt an der nächsten Station ein Punk die U-Bahn. Kein Teenie-Modepunk, sondern ein seltener echter, ranziger, etwas in die Jahre gekommener; einer mit (natürlich!) Hund im Schlepptau, grünlich ausgewaschenem Irokesenschnitt, ausgedienten Feuerzeugköpfen als Nieten am Revers der zerfledderten Jeansweste und sowas wie politischen Einstellungen, die er mit Anarcho- bzw. Anti-Nazi-Aufnähern zur Schau trägt. Auch wenn die Bahn nicht voll ist: Sitzbänke sind ihm zu spießig. Sein Wuffi und er nehmen bequem im Gang auf dem Fußboden Platz, gegenüber der Jurastudentin, die prompt angewidert von ihrem Schönfelder aufschaut. Doch auch er hat Lektüre dabei: intellektuell, politisch, gesellschafts- und konsumkritisch! Aus seinem abgegrabbelten und mit wichtigen Statements bemalten Armeerucksack zaubert er ein zerfleddertes "Disney's Lustiges Taschenbuch" hervor, in das er sich ebenso angestrengt wie fasziniert vertieft. Faust hoch gegen das System! Mittelfinger den Spießern und Nichtdenkern!

Freitag, 27. August 2010

Outsiders

Das Los von Friedrichshain: Sollte man auf das spucken, was einen (erfolg-)reich oder überhaupt möglich macht - nur weil es irgendwann doch ein ganz niedliches kleines Bisschen nervt? Im Bereich Warschauer Straße haben ansässige Bars, Kneipen, Läden, Imbisse, Hotels etc. offenbar nun genau davon die Schnauze voll. Dabei aber Humor. Und eine ziemlich präzise Vorstellung von der Outgroup.
In F'hain schreibt man seine AGB auf Tafeln.







- ohne  weitere Worte -

Dienstag, 24. August 2010

Vom Feuern und Feiern

Es sollte das letzte open-air-taugliche Berliner Wochenende werden. Ob das stimmt, warten wir erstmal ab; der durchschnittliche Wetterfrosch kann sich schließlich nicht mit Oktopus Paul messen. Auf jeden Fall wurde es meinerseits desbezüglich genutzt - und hätte darin kontrastreicher nicht sein können.

Bereits zum 12. Mal gab es im Britzer Garten, den der echte (West-)Berliner auch nach 25 Jahren immer noch stoisch "das Buga-Gelände" oder kurz "die Buga" nennt, am Samstag das Feuerblumen und Klassik Open Air. Was ich nicht verstehe, ist, wieso jemand bei einer solchen Veranstaltung Stuhlreihen-Platzkarten kauft, wo doch der Reiz im Picknicken und Wiesesitzen liegt und die reine Akustik sowie der Sitzkomfort, falls es um dies beides geht, sicher in einem Konzertsaal besser wären. So unterteilte sich das Publikum gestrenge und abgesperrt in gemütliches Parkvolk (oder Packvolk?) mit den günstigeren Wiesenkarten einerseits und die selbsternannten oberen Zehntausend andererseits (bitte die Eingezäunten nicht füttern!) - die garantiert weniger Spaß hatten. Von der ursprünglich, man merkt's, eher auf Sport spezialisierten radioBerlin-88,8-Moderateuse Marion Pinkpank (ist das eigentlich ein Künstlername?) wurde die Zwei-Klassen-Gesellschaft noch unterstrichen: In ihren ebenso bemüht wie erfolglos auf locker-lustig getrimmten Moderationen wurden die in die Bestuhlung vor der Bühne Gedrückten als "verehrte Damen und Herren" gesiezt, die WiesensitzerInnen dagegen mit "Habt ihr Spaß da hinten? Ihr seht so toll aus!" geduzt, egal, ob auch hier das Durchschnittsalter recht hoch und mehrfach Omi und Opi mit Campingzubehör oder Picknickkorb angerückt waren. Man erliegt eben gerne Klischees und biedert sich dann an, um das Senderimage zu verjüngen. Da sowohl Jazzradio als auch Klassikradio pleite sind, erklärt sich wohl auch, warum nicht Letzteres das Event sponserte und präsentierte. Na gut: dadurch sowie anhand der Frage "Öffentlich-rechtlich oder privat?" - angesichts einer Stadtparkveranstaltung.
So oder so: 12.000 BesucherInnen können nicht irren, Charme hat das Konzept. Schon vom Namen her, schließlich veranstaltet hier immer die "Grün Berlin GmbH", da müsste ich eigentlich mitwirken (ha, Brüller). Auch wenn die Musikauswahl bei der "St. Petersburger Nacht" nicht nur meine allererste Lieblingsklassik war. Inmitten all des Grünzeuges brutzelte dabei die Augustsonne in einem womöglich letzten Aufbäumen erbarmungslos vom Himmel, so dass sich unser erlauchter Kreis während der Nachmittagshitze unvereinbar in Sonnenanbeter und Schattensitzfans teilte. Als sich die befreundeten Splittergruppen am frühen Abend auf der inzwischen brechend vollen Hügellandschaft wieder zusammenschmissen, ergab dies nicht nur nasse Rückseiten vom Senke-Sitzen (da war doch die Tage davor irgendwas mit Regen gewesen? Wie war das doch mit der Physik und dem Lauf des Wassers, so rein unterirdisch betrachtet?), sondern man hatte die Musik auch mehrheitlich schon den ganzen Tag gehört; schließlich war vor Beginn des offiziellen Konzertteils stundenlang öffentlich geprobt worden. So war das Ganze ein gefällig untermaltes, gemütliches, stundenlanges Picknick. Mein spezielles Highlight war darin einmal mehr menschliches Verhalten: und zwar von Spinnern, die ihr halbes Wohnzimmermobiliar inklusive Stand-Kerzenleuchter mitgebracht hatten, bis hin zu einem der Unsrigen, der den ganzen Tag nörgelte, er warte so sehr auf das nächtliche Feuerwerk - um dann, als dieses endlich (natürlich zu Händels "Feuerwerksmusik") grandios inszeniert und choreografiert den Himmel illuminierte, die ganze Zeit die Augen zu schließen und den Kopf gen Boden zu senken: Das sei ihm "zu grell". Höchst amüsierte Grüße an dieser Stelle nach Provinzlauer Berg. Duuu nenn andere nochmal "Weichei"!
Gegen 23 Uhr glich der sonst so familienidyllische Großgarten mit den sich wegwälzenden Horden jedenfalls dem Olympiastadion beim Abzug von Fußballfans. Da soll noch einer sagen, in der Peripherie sei nix los und Klassik ein totes Genre. Wie irreführend der Begriff "E-Musik" ist, zeigte sich auch einmal mehr. Ein besserer fällt mir allerdings auch nicht ein.
"Volles Haus"...
...geht auch ohne Haus.
Bessere Gesellschaft und Wiesensitzer, Klang und Licht:
"Feuerblumen & Klassik Open Air" im Britzer Garten.
Jenen beschaulichen Unterbezirk Britz nennt der klassische Proll übrigens stänkernd "das Hollywood von Neukölln", wie am Sonntag bestätigt wurde. Auch wenn der klassische Proll in diesem Fall erstens eine Prollette, zweitens dann doch wieder keine und drittens gar nicht so klassisch war. In der "Kurmuschel von Bad Neukölln - wir sind ja jetz Kurort, in Juttas Kneipe wurde 'ne Futschi-Quelle entdeckt", auch Freiluftkino Hasenheide genannt, gastierte zum 4. Mal die Trash-Klamauk-Combo um Ades Zabel alias Edith Schröder. Was könnte russische Klassik, Barock und Mozarts seichtere Werke besser kontrastieren als konsequent schlechte und genau dadurch gute Travestie mit boshafter Prekariatsattitüde? Ediths Sommernachtstraum war wohl ein recht alkoholisierter Traum - diesmal nicht nur gespielt betankt, sondern zu "echt" wirkend von Stolpern, Textvergessen und Konfusion begleitet. So viel Unterhaltungswert hatte selten etwas so Konzeptloses. Dabei wurden kostenlos Zitty-Hefte verteilt, da Hochwürden auf dem aktuellen Titel prangt, und den Besuchern als Geschenk Rostbratwürste aufgedrängt. Schade, dett dit Jrünzeuch keen Fleesch frisst. Anderen dagegen reicht ja schon das reine Wort "Wurst" zur ekstatischen Begeisterung, und zwar öfter mal.
Wie immer gab es auch Randale light (zwecks besserer Sicht an den Seiten rupfte Edith vor der Bühne ganze Büsche aus, "wenn dett mal nich Ärger gibt mit so'ner Kampflesbe vom Grünflächenamt!") sowie, ganz im Handke'schen Sinne, beste Publikumsbeschimpfung: Sei es beim Verschachern von letzten Grillwürsten (von "Wenn ick dich so ankieke... na macht nix. Ick hatte ooch schon zu viele Würste!" bis hin zu "Wer hat sich jetz zuerst jemeldet? Hier, die da hinten, die mit den Möpsen, den kleenen! Aber dafür janz schön dicker Bauch! Is da watt drinne? Haste 'n Braten inna Röhre, ja?") oder Regenschirmen ("Ihr seid doch nich aus Zucker! Obwohl - hier wohl mehr als woandas. Ick werf mal Schürme. Siehste, dit is der Beweis, ooch Schwule können fangen.") oder bei Verkupplungsversuchen ("Biste etwa hetero? Ach so, er weeß noch nich, er überlegt noch!").
Als im Laufe des Abends die unfasslich drückende Hitze durch das abgelöst wurde, was ich mir leichtsinnigerweise im letzten Blogeintrag gewünscht hatte, erteilten sowohl Bühnenvolk als auch Publikum den gediegeneren und runderen Veranstaltungen ein Lehrstück in Sachen "feiern". Tapfer blieben fast alle, ob unter Bäumen am Rand Schutz suchend, in Regenkleidung oder Schirme geduckt oder einfach schulterzuckend, vor Ort und johlten eher lauter als leiser - und ließen auch die Darsteller nicht allzu vorzeitig gehen. Auch wenn diese ebensowenig ein Dach über sich hatten und das Programm(?) erst stärker abkürzen wollten, dann aber im Wolkenbruch alle Fünfe gerade sein ließen. Für die wild zusammenimprovisierte Finale-Party bei offenen Schleusen und ohne elektrischen Schlag, dafür aber mit noch gegenseitig übereinander ausgeleerten Gießkannen und Wassereimern, gebührt sowohl Edith als auch Biggy, Jutta, Kevin-Adriano, Adriano-Kevin und dem restlichen Edith-Universum massiver Respekt. Nur gut, dass Lady Gaga und Hürriyet Lachmann (welcher Deutschtürke nennt eigentlich seine Tochter "Freiheit"?) da schon von der Bühne waren. Die hätten sicher gezickt.

Samstag, 21. August 2010

Meer Berlin II

Noch nachgereicht von den vergangenen Tagen - und weil ich mich wieder danach sehne: Es passiert in Berlin selten (siehe auch zweite Hälfte des Eintrags zum Thema Sommerloch), aber das war nun wahrlich mal ein anderes Meer, als ich es einen Monat zuvor sowie mehrheitlich auch die Wochen drumherum wahrnahm. Und, auch wenn ich mit dieser Meinung meist allein dastehe: Hell yes, tat das gut! Und war das schön! Nicht nur für Pflanzen.






Zum Heulen nur, dass es danach sofort wieder stickig, schwül und klebrig-warm wurde. Lustig ist, dass Menschen dann immer noch meinen, es sei "gar nicht mehr heiß" oder gar "total kalt geworden" (man beachte auch die herumlaufenden Schals, Mützen und Anoraks!), nur weil es mal bedeckt ist oder ein paar Restpfützen herumlungern. Also mein Kreislauf, speziell der des Wassers, sagte da was anderes.

Montag, 16. August 2010

Schafwandler

Eine unfassbar relevante, weltbewegende, philosphische, bohrende Frage begegnete mir und lässt mich nicht los. Ich bitte daher die Grünzeuch-Leserschaft inständig um Mithilfe beim Antwort(en)-Finden:
Was zählen eigentlich Schafe, wenn sie nicht einschlafen können?

Mittwoch, 11. August 2010

Tunnelblick (3): Pretty in pink

Lange Zeit dachte ich, die meisten Freaks treffe man in der U8, U9 oder U1. Doch auch die U7 ist wirklich nicht zu verachten. Teils sind die Kaputten dort nur anders kaputt. Ich weiß nun zum Beispiel: Barbie ist ein Mensch aus Fleisch und Blut - und vielleicht etwas Silikon. Sie zerbricht an ihrem Jugendwahn und an der Gesellschaft, die ihre pastellene Gutwelt-Luxus-Lebensfantasie schmäht und verhöhnt. Und Barbie fährt U7.

Irgendwo in Schöneberg stieg sie ein: kein um Originalität und Auffallen um jeden Preis bemühter Teenager, sondern eine erwachsene Frau, vermutlich um die 30, aber Make-up kann sowohl täuschen als auch Spuren fürs Leben hinterlassen; ebenso wie Diätwahn oder Hungern, vielleicht auch wie das Leben selbst. Sie trug Träume in hellrosa: komplett, bis auf die weißen, grobmaschigen Häkellook-Kniestrümpfe, die vielleicht Overknees sein sollten und an den spindeldürren Beinen nur hinabgerutscht waren, sowie bis auf eine weiße Armkette und die wasserstoffblondierten, überlangen Haare mit Stirnpony. Das Röckchen, das Blüslein, das Top darunter, die High Heels, die Armbanduhr, die Nägel, die Lippen, das Rouge, das strassbesetzte Handy, auf dem sie, kaum sitzend, sofort wild herumzutippen beginnen würde: Alles strahlte im Klischeemädchen-Paradies-Farbton. Auf den Fingernägeln prangten zusätzlich bunte Glitzerpartikel und in bestem French-Nails-Stil rosa Blumen und Schleifen. Selbige trug sie auch im Haar - und zwar auf einem pinken Plastikhaarreif. Sie hätte eine in ihre Kindheit Zurückversprengte sein können; wenn da nicht die Gesichtszüge gewesen wären und die auffallend überdimensionierten Brüste an dem dürren, hochgewachsenen Körper. Und der Kinderwagen. Sie schob ein gerafftes Ungetüm mit Faltpagodendach und miniaturhumanoidem Inhalt mit sich herum, das sie vor meinen Füßen parkte, als sie Platz nahm; natürlich in rosa, etwas dunkler als sie selbst, ein pinkfarbener Babywagen mit Einlage: rosa, nuckelnd, glucksend. In Barbies Detailverliebtheit war auch an dem Kind alles pink, vom Strampler über die Rasseln, das Kuscheltierspielzeug und das Trinkfläschchen im leuchtpinken Wagennetz bis hin zum Windelvorratspack im Wagenkorb. Vermutlich kauft Barbie rosa Waschmittel und Klopapier - sowie auch die Lebensmittel streng nach Farbe.

Hermannplatz, ich musste aussteigen. Nein, Barbie blieb sitzen. Mit den üblichen Gescheiterten und Gehetzten an diesem Ort hatte ihre blassrosa bis freudigpinke Welt nichts gemein. Da der Kinderwagen quer vor mir stand, konnte ich nicht aufstehen und machte eine Aufbruchs-Geste, während ich "Entschuldigung?" gen rosa Elfenstaub hauchte. Statt einfach das Babyvehikel ein Stück abzurücken, sprang Barbie selbst erschrocken auf, knickte dabei mit einem ihrer viel zu hohen Pumps um vor lauter bemühter, übertrieben höflicher Hektik. Vermutlich bewirkte mein Umstiegswunsch die nächste Lebenskrise (oder Stress mit Ken), denn Barbie gab den Weg frei mit den absolut unerwarteten, schüchtern geflüsterten Worten: "Oh, Entschuldigung, ich weiß, ich weiß, ich bin wieder viel zu fett!"

Donnerstag, 5. August 2010

Tunnelblick (2): R-Ente

Viel zu lange vernachlässigt wurde die noch neugeborene Rubrik Tunnelblick. Reine Schusseligkeit, denn eigentlich vergeht selten ein Tag ohne Merkenswertes aus ÖPNVhausen und den Anrainerorten. Exemplarisch dafür steht die folgende Szene.

In den frühen Abendstunden in der U7 gen Spandau lassen sich zwei ältliche Damen mir gegenüber nieder. Sie sind bereits mitten in einem ökonomischen Fachgespräch, das ich schnell paraphrasierend gedächtnisprotokollieren möchte, ehe ich den möglichst nahen Wortlaut vergesse.
"Ja, das ist ja klar", meint die eine, "wir haben ja auch unser Leben lang hart und aufrichtig gearbeitet und jetzt dürfen wir uns eben ausruhen und kriegen unsere Rente. Aber die Jungen heute, ganz ehrlich... warum sollten die mal irgendwas kriegen, die Jungen arbeiten doch kaum. Die wissen gar nicht, wie das geht. Fangen erst so spät an oder einfach nie, und zahlt von denen ja auch keiner irgendwo ein. Und richtige Arbeit ist das ja auch nicht, was die so machen. Die sitzen ja nur an Computern. Oder warten auf ihre Rente." Die andere wendet ein: "Na die behaupten ja immer, sie kriegen keine Arbeit. Grad gibt's ja wohl auch wirklich nicht viel. Die tun mir schon leid, die jungen Leute, warum sollen die sich noch bemühen." Die erste Dame zuckt zunächst mit den Schultern, dann schüttelt sie mit dem Kopf: "Nee, weißte, das glaub ich gar nicht. Das senden die nur so im Fernsehen. Guck mal, nach dem Krieg hatten wir nix, gar nix gab es da sonst von irgendwas - aber Arbeit, die gab's ja selbst da!"

Samstag, 31. Juli 2010

Mär Berlin

Albrecht der Bär gründete das Fischerdorf Bärlyn einfach und unkriegerisch durch Reden, Diskutieren und Überzeugen, auf dass Friede mit den Wenden (Cölln, Stralau und de janze Mischpoke) herrsche, aber das Bärlein sie ggf. alle "zusammentatze". So wurde es mal in der Grundschule gelehrt, düster dämmert es mir. Ob ausgerechnet die Berliner die Ritter der Christianisierung sein sollen, wie Varianten der Gründungssage es zeigen, oder ob sie nicht einfach nur gerne labern, sei mal dahingestellt. Fazit ist aber: Die PR hat schon immer gestimmt, auch wenn es nicht viel zu holen (und zu geben) gab.

Das Problem kennen viele Länder: den immensen, träumerischen, sich Wolkenkuckucksheime bauenden Zuzug vom Lande in die Großstädte, vor allem gen Hauptstadt. Denn dort müssen doch - gefällligst, logischst! - die Lebenschancen, vor allem die auf Arbeit, um so viel größer sein. Dazu kommt die Lebenschance auf größere Selbstverwirklichung. Was Letztere angeht, kann man, oberflächlich betrachtet, in dörflicheren oder kleinstädtischeren Regionen manchmal bestätigt sehen, woher dieser Eindruck und diese Hoffnung kommen. Großartiges scheint es, so der Traum, nur in der Großstadt zu geben. In Hintertupfing und Klein Hintersiehstemichnich sucht man vergebens so tolle und vor allem wichtige Aktivitäten wie Paintballspielen im Vollkostüm, Beachclubs auf Hochhäusern, Transgender-Töpfergruppen, Open-Air-Karaoke im Amphitheater oder eine Pingpong-Bar, in der man spät nachts, wochentags, abgeranzt, bei billigem Flaschenfusel und Gekiffe um eine verlotterte Platte rennen und "chinesisches" Tischtennis spielen kann. Mist aber auch. Da muss man doch was ändern!

Andererseits sind, ähnlich wie in (aber noch vor) Hamburg und München, in Berlin über 50 Prozent aller Haushalte Einpersonenhaushalte (genannt auch "Single-Haushalte", womöglich irreführend oder vorab wertend, wie zu überlegen ist). Was aber heißt das, dass jede/r Zweite hier allein lebt? Dass diese/r auch allein ist und sich allein fühlt (oder einsam, was nicht dasselbe ist wie allein)? Oder nur, dass das Ego und der Drang nach Unabhängigkeit, Freiräumen, Rückzug, auch: eigener Wohnung trotz Beziehung, summa summarum: nach nicht traditionellen Lebensformen größer sind als in vermeintlich spießigeren, kleineren Orten? Dies lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wäre aber mal eine Studie wert. Ebenso die Frage, ob denn "Single-Sein" nun eher mehr Lebensglück oder eher weniger beinhalten muss. Gängige Interpretationen gehen in Richtung des Zweiten und setzen dies als allgemein anerkannt voraus, obwohl Biologie, Chemie und Verhaltenspsychologie doch längst wissen, dass der Mensch zu lebenslanger Treue und Zweisamkeit ohnehin nicht geschaffen ist. Und obwohl - zumindest in Großstädten - ja die These zulässig wäre, dass bei größtmöglicher Selbstverwirklichung das Lebensglück nur marginal vom Status einzeln/gepaart abhängen könnte (wie gesagt, da steht noch eine Studie aus, wer hat Lust?). Bestimmt ist das nur die Verderbtheit dort, wo Sodom und Gomorrha herrschen und die Tugend sich verdünnisiert hat. Oder so.

Und noch ein Gedanke aus der Rubrik "Und dann war da noch...": Neben allgemeingesellschaftlichen, gesamtdeutschen Wohntrends spielt da vielleicht auch der demografische Wandel (ich kann mich immer noch nur mäßig damit abfinden, dass man die "Fische" jetzt mit F schreibt) eine nicht unwesentliche Rolle: Bei verwitweten Älteren ist die Frage, warum sie allein leben, vielleicht nicht so kompliziert zu beantworten. Und nein, auch Berlin ist nicht so jung, wie es sich gern gibt - was nicht heißen soll, dass Wowis inoffizieller Berlin-Slogan "arm, aber sexy" für Senioren nicht gelten darf. Statistik ist toll. Und wenn sie nicht gestorben sind...

Freitag, 30. Juli 2010

Mehr Berlin

Eine der Lehren aus dem DDR-Alltag lautet: Wo schon eine Schlange steht, sollte man sich erstmal mit anstellen - und dann fragen, was es gibt. Berlin wächst weiter. Allerdings nicht aus seinen eigenen Reihen heraus, denn die "echten" Berliner pflanzen sich kaum noch fort (wandern seit Jahren aus der Innenstadt ab, v.a. in den Berliner Speckgürtel, wenn sie eine Familie gründen oder gegründet haben, das schwächt die Statistik), sondern aus externer Zuwanderung und dem so zugewanderten, anderen Paarungsverhalten. Und das, obwohl das bunte Leben an Spree und Havel immer mal wieder als nicht gerade kinderfreundlich gilt. Da hilft auch das bundesweit erste Gesetz, das Kinderlärm unter Artenschutz stellt, nichts. Angesichts des immer wieder erforschten Zusammenhangs, dass "Akademikerinnen" in Deutschland generell keine, wenige und/oder erst spät Kinder bekommen, müsste Berlin ja dann mindestens zum Löwenanteil oder unter Einheimischen voller Hochgebildeter sein. Schade ums schöne Proll-Image. Aber zum Glück gibt es ja die Neuberliner. Die somit kreisschlussartig ungemein ungebildet sein müssenden (sonst würden sie ja keinen Nachwuchs werfen!) Zuwanderer kommen nicht nur aus dem (vorwiegend östlichen) Ausland; sondern der subjektive Eindruck stimmt total erwiesenermaßen: Die Provinz vereinnahmt die Hauptstadt! Rette msich, wer kann! Auf der Countryside muss es ganz ganz grässlich sein, denn an den tollen Chancen hier kann es nicht liegen.

Wobei man sich natürlich auch mitten in der Krise und mitten in der Pleitestadt prima an kleinen Entspannungszahlen festhalten und hochziehen kann (bei denen allerdings die Beschäftigungszahlen noch nicht viel über Löhne und Gehälter aussagen). Au au, lasst dazu mal nicht Buschkowsky sich nochmal äußern auf seinem tapferen Kreuzzug! Auf jeden Fall gibt es neuerliche Hoffnungsschimmer, auch dazu, dass das Überaltern und Entfamilialisieren der Hauptstadt sich umkehrt. Neuerdings wird nicht mehr nur noch in Pankow und Prenzlauer Berg geboren, sondern auch und vor allem in Friedrichshain und Kreuzberg. Den Gedanken, wie viele echte Urberliner sich wohl ausgerechnet in diesen vier Bezirken noch aufhalten, Babies machen und dann den stylishen Jogger-Buggy durch die Szene schieben, verfolgen wir mal nicht allzu weit. Aber da der Berliner Dialekt ja ohnehin zum Soziolekt verkommt, muss man ihn wohl seufzend abschreiben, ebenso wie den Berliner Humor und die sprichwörtliche Berliner Schnauze.
Die These von den gebärenden Provinzprolls entkräftet leider: Vor allem Studierende zieht es nach wie vor in die Hauptstadt. Man muss ja mal 'ne coole Zeit verleben, ehe man die Sache mit dem Bausparvertrag und der glücklichen Kleingartenfamilie in Angriff nimmt oder an der straighten Karriere bastelt - dies natürlich dann woanders, wenn man sich genug ausgelebt hat. Was aber wird z.B. aus Nord-Neukölln, wenn es dort vor Studi-WGs wimmelt und es immer hipper, teurer und "wohnwertvoller" wird? Gefahren drohen nicht nur dem alteingesessenen Altberliner Asi-Atzen in Adiletten.

Sonntag, 25. Juli 2010

Desperate Houselives

Ob mit 3-Wetter-Taft oder 3-Glitter-Top: Die Frisur sitzt, das Outfit auch, wo ist die nächste Kamera, um unter die ausgeflipptesten und tollsten Bilder des Tages zu kommen, kings and queens for a day, auf geht's, und prost, und das Ganze bei eitel Sonnenschein! Statt Stars für einen Tag gab es aber höchstens ein Celebrity Deathmatch. Da muss dann auch anderes zurückstehen, was ich eigentlich veröffentlichen wollte, irgendwie scheint gerade alles andere unpassend angesichts von Dr. House und Patient Techno.

Ungut erinnert fühlt man sich nach dem im mehreren Sinne finalen Ruhr-Rave an Sheffield vor 20 Jahren oder an andere Katastrophen bei Großveranstaltungen - ob Fußball oder Party -, die mit zu vielen Menschen auf zu wenig Raum, baulichen Blödheiten bzw. Fallen und der guten alten Panik (von wegen Trägheit der Masse!) zu tun hatten. Auch wenn die Zahlen da teils noch ganz andere waren. 19 Tote und über 340 Verletzte, davon viele schwer oder schwerst, das ist auch nicht zu verachten. Dazu kommen die Traumatisierten, welche in der Stampede oder im sich daran anschließenden, wirrwarrigen Gewühl Naivität, Orientierung, Freude oder Freunde verloren. Deathparadely seeking Susan.

Unverständlich bleibt, wie Organisatoren sowie Stadt Duisburg auf die Idee verfallen konnten, die Loveparade könne so gutgehen. Speziell, wenn damit gerechnet werden musste, dass durch gewisse Substanzen (auch in Verbindung mit i.d.R. geringem Alter der sie Einnehmenden) sowohl die Selbsteinschätzung als auch die allgemeine Urteilskraft vieler Teilnehmender ein wenig ausgehebelt sein würden. Wer hat sich nur die Nadelöhr-Idee einfallen lassen? Was aber noch viel unverständlicher bleibt: Wie sich Planer, Organisatoren und Verantwortliche geschmackloserweise so kurz nach dem Unglück zu schnellen Schuldzuweisungen bzw. vorauseilender Schuldabwehr im Selber-schuld-Stil hinreißen lassen konnten. Die Teilnehmerzahlen wurden plötzlich stündlich geringer geredet und der im Krisenstab an der Planung beteiligte Panikforscher Prof. Michael Schreckenberg erboste sich im WDR-Interview sowie auf einer Pressekonferenz gar, dass sofort nach Schuldigen gefragt werde (naja, was soll man als Journalist auch machen, um eine Sondersendung zu füllen?), findet diese aber sofort selbst, und zwar bei den Opfern. Unter denen hätten sich viele, was bei Massen oft vorkomme, "nicht an die Spielregeln gehalten". Sowas aber auch! Wenn das so oft vorkommt (wirklich nicht sehr überraschend) und schon der entsprechende Spezialist als Berater im Krisenstab sitzt, hätte man dann nicht erst recht solche Fallen vermeiden müssen?

Schön auch: Überall, auf youtube wie im Fernsehen, kursieren natürlich sofort Amateurvideos von der Szenerie. Bedenkenswert, dass Menschen in Panik die Situation nicht unter Kontrolle haben, wohl aber noch die Kamera ihres Mobiltelefons.

Ansonsten bekunden Hinz und Kunz sofort ihre Betroffenheit. Sogar Guido Westerwelle, dessen Statement nun nicht gerade brandaktuell wichtig ist; wohl weil er weiß, dass sein Sympathiekonto nicht das bestgefüllte ist und er mal wieder etwas Menschelndes sagen sollte, am besten als Erster. Der nichtpolitische Teil Berlins hat bisher noch nicht viel bekundet, erstaunlicherweise nicht einmal Häme, so kaltschnäuzig ist dann selbst keiner mit der bösen, gefürchteten Berliner Schnauze. Typisch berlinisch müsste man nun arrogant-süffisant blöken: "Sowas wäre hier nicht passiert!" Mag sein. Mag aber auch nicht sein. Wenn man bedenkt, welch Betroffenheit hier jedes Mal herrschte, wenn wieder einige alkoholisiert und vor allem dehydriert ("Schuld eigene!") verstarben oder einmal jemand in einer Messerstecherei das Nämliche tat ("Schuld eigene!"), dann will man das lieber nicht zu Ende denken, ob wir hier nicht einfach nur Glück hatten und etwas mehr Raum. Irgendwie sind wir ja schuld an der ganzen Veranstaltung. Dass es sie überhaupt je gab.

Wie die meisten "echten" Berliner sah ich damals die Laffenparade als ein notwendiges touristisches Übel für den Ruf als Weltstadt und das Herlocken von Neu-Touri-Potenzialen an, ertrug das Spektakel aber eher in stiller Würde und machte drei Kreuze, wenn die überall hinurinierenden und -vomitierenden Betrunkenen (nach meinem Eindruck war die Hauptdroge tatsächlich nie Extasy, sondern der schnöde Alkohol bei Monstertemperaturen) wieder weg waren, sich wieder zu Hause danebenbenahmen (oder vermutlich eher sehr brav) und ich das Ganze unbeschadet überstanden hatte. Anders als der jährlich zertrampelte und bepieselte, somit getötete Tiergarten. Aber solange es nur Gras ist.

Donnerstag, 22. Juli 2010

M'Air Berlin

Die Pannen-Notlandung eines Spaßpiloten auf dem Ex-Flughafen Tempelhof Ende Juni kostete 2000 Eumel - und den Irrflieger eine Ladung Mecker, die sich auch auf andere Notleidende, äh, Notlandende auswirken wird, sowie 8.000 Eumel Quasi-Strafe (ich bitte um Entschuldigung für das vermehrte Verlinken fragwürdiger Presseorgane). Mehr davon! Und die Sünder nicht auf eigene Organisation ausweichen lassen, sondern öffentlichen Aufschlag kassieren! So kann man auch das Königreich der Lüfte gegenfinanzieren und nicht nur den teuren Unterhalt von Gebäude und Gelände.
Es drängt sich aber auch eine andere Vermutung auf. Es könnte sich um eine PR-Aktion gehandelt haben! Nämlich um eine aus der altbekannten und beliebten Rubrik: "Was macht eigentlich...?" - Hierfür als aktuelle Ausgabe hoch gehandelt: die Initiative für den Erhalt des Flughafens als solchen. Nach dem Motto: "Flugbetrieb, na bitte, geht doch, und 'das Volk' will ihn auch! Einer hat's wieder vorgemacht!" Und ehrlich gesagt machte man sich ja schon Sorgen, wie's dem Verein so geht. Es hat ja schon unfassbar lange kein Volksbegehren mehr hierzu gegeben. Aber es besteht neue "Hoffnung", dass denen nicht langweilig wird, auch wenn sie die Forderungen inzwischen modifizieren. Unser jährlich Blöd gib uns heute!

Freitag, 16. Juli 2010

Meer Berlin

Fiese Fata Morgana flimmert Millimeter über dem dampfenden Asphalt: Nicht einmal nachts kühlt es merklich ab in der Stadt. Das schlägt bei manchen in Übermut um, bei anderen auf die Laune, bei wieder anderen aufs Gehirn. Sicher ist, Berlin im Sommer ist skurril.
Bereits morgens ist es für Sommerjunkies das Paradies, aber für Sommerhasser nirgends auszuhalten, man fühlt sich elend - und doch sind um einen herum immer noch Menschen, dank derer man sich noch elender fühlt, weil sie noch mehr schwitzen, schnaufen und dünsten als man selbst und ihr Geruch den Kreislauf schwindlig schüttelt. Aggressiv pflügen sich ächzende Radfahrer durch den Verkehr und überheizte Autofahrer vergessen alle Verkehrsregeln, die Hupe aber finden sie immer. Ventilatoren sind schon länger ausverkauft, wie damals 2003, beim letzten Rekordtemperaturen-Sommer. Ämter und Behörden sollen sich diesmal ganze Ladungen davon direkt ab Wareneingang gesichert haben. Der öffentlich-rechtliche Sender rbb gibt Mitarbeitern gegen Unterschrift Schüsseln aus, damit sie sich kalte Fußbäder unter ihren Arbeitsplatz stellen können.
Die Damen(?)-Sommermode suggeriert nicht nur, die Stadt sei ein einziges, großes Strandbad, sondern ist eine harte optische, nervliche und geschmackliche Prüfung. Zu viele Mädchen und Frauen haben offenbar vergessen, eine Hose anzuziehen; aber man will nicht so unhöflich sein, sie darauf hinzuweisen. Formlos-schlabberige, dafür aber transparente Hängerchen baumeln über Bikinis. Dazu klatschen Flipflops den typischen, schlurfigen Beifall auf dem heißen Boden. Auch wer nur zur Arbeit fährt, will aussehen, als sei er im Urlaub. Vielleicht fühlt man sich dann auch, als sei man dort, oder als liege Berlin am Meer. Auf der Spree schippern allerdings nur Touristen und die vielen Badeseen liegen zu weit außerhalb.
Unter Tage hält sich die aufgeheizte Schlechtluftmasse teils noch beharrlicher als oberirdisch. Auf dem nächtlichen U-Bahnhof Kaiserdamm ist es so heiß und stickig, dass das Warten nicht auszuhalten ist: 13 Minuten in der tiefergelegten Sauna, das geht nicht, also so lange lieber wieder nach oben gehen. Die tagsüber so frequentierte Kreuzung ist verkehrsleer, aber Fußgänger irren umher, teils Gassi gehend mit luftweghechelnden Hunden. Irgendwo hier im Nightlife-Niemandsland muss ein Abiball gewesen sein oder ein Abschlussball einer Tanzschule oder ein Casting für Komparsen, denn es wimmelt von auffallend jungen Menschen in auffallend festlicher Garderobe, die sich nur teilweise untereinander zu kennen scheinen. In ihren nicht immer geschmackssicheren Partymode-Abendkleidchen stolpern Mädels umher, die Fränkisch sprechen oder Hessisch. Vielleicht doch kein Abiball. Eine Frau mittleren Alters mischt sich darunter, im schulterfreien Petticoatkleid mit paillettenbesetzter Schmetterlingscorsage, ihr Körper ist über und über tätowiert mit Monstern und Fantasy-Figuren, die unter dem möchtegerneleganten Geglitzer hervorlugen, und sie quatscht die Teenager haltlos und lautstark voll. Die "Bread & Butter" kann an all dem nicht mehr schuld sein, denn die Messe ist vorbei.
In der Bahn zollt mein Hirn der Uhrzeit, dem vollgestopften Tag und der zermürbenden Hitze Tribut: Ich vergesse umzusteigen. Da aber alle Wege über Rom führen und es in Berlin ein paar Roms gibt, steige ich an einem davon aus. Der Anschluss ist weg, also erstmal draußen Luft schnappen. Auf der Ecke vor dem Bahnhof Zoo spricht mich unsicher und leise ein bayrischer Früh-Twen im adretten, schwarzen, damenhaft wirken sollenden, kurzen Kleid an: Wo es denn Richtung Hauptbahnhof gehe? Ob so spät überhaupt noch irgendwas fahre? Ob von den Bussen einer dorthin kurve? Und ob denn in dem Bahnhofsgebäude dort noch irgendwas sei oder weiter hinten noch etwas komme, nun ja, sie fahre wohl besser Taxi? Meine Erläuterungen zur S-Bahn will sie lieber nicht hören, nein, wirklich, lieber Taxi; jetzt beginnt sie herumzudrucksen, eigentlich traue sie sich da nicht hinein in das Gebäude. Was sie wohl in Wahrheit sagen will, ist: Sie traut sich nicht an den Menschen vor dem Gebäude vorbei - und fürchtet, innen könnten noch viel mehr davon, dafür aber keine Züge sein. Ich biete ihr an mitzukommen, bringe sie hinein, vorbei an den ganz ganz sinistren, gefährlichen Obdachlosen, Strichern und Drogensüchtigen, vor denen sie zurückzuckt, durchquere mit ihr die Bahnhofshalle, während sie sich ängstlich umschaut, und begleite sie noch bis hin zum richtigen Gleis, das voll von Menschen wie ihr ist, nur lachend und laut. Der nächste Zug gen Hauptbahnhof wird für nur zwei Minuten später angezeigt. Sie strahlt und bedankt sich tausendmal. Es wimmelt von Berlin-Einsteigern und -Umsteigern.

Montag, 12. Juli 2010

Sommerloch

Das gute alte Sommerloch: Gibt es eines? Stopfte die Fußball-WM es oder übertünchte sie nicht eher Geschehnisse? Geschehnisse, die - wenn man noch nicht einmal ins Ausland schaut, sondern sich schlicht die deutsche Politik während dieser Zeit anschaut - wie 2006 wieder ausnutzten, dass a) ein Sommerloch suggeriert und b) die WM durchgeführt wurde? Unser neuer Bundeswulff will dafür ja auch gleich Freude haben in seinem neuen Amt und sich von der Welle mittragen lassen, auch etwas angefeuchtet werden von ihr, angeschwappt durch den Glamour-Moment mit dem Medaillenumhängen vor den Augen der Welt, bei dem er durch Übereifer glänzte, also ran mit dem Bundesverdienstkreuz an Jogi Löw. Merke: Politik - it's fun!

Schön wäre ein Sommerloch im ganz anderen Sinne. Also ein Loch im Sommer. Auf dass sich meinetwegen Löcher in der Wolkendecke zeigen statt Ozonlöcher! Jedoch: Überall soll's gewittern, nur Berlin kiekt wieder neese in die Röhre und heizt stumm vor sich hin; so ist das eben in einer Stadt, die 30% unter dem Bundesdurchschnitt liegt, was Niederschläge angeht, an der Sonnenseite der Republik liegt und auch jetzt wieder den Spitzenplatz im Trockenbrutzeln belegt. Treffende Ansagen gab es dazu auf Radio Eins: "Der Wetterbericht. Es sind siebenhundertdreißig Grad." - und etwas später: "Das Wetter: heute heiß und trocken, hohe Waldbrandgefahr. Nachts heiß und trocken. Morgen heiß und trocken. Hohe Waldbrandgefahr." Mehr oder Genaueres muss man dazu eigentlich wirklich nicht sagen. Außer vielleicht die Frage aufstellen, ob Wälder nachts schwerer entflammbar sind.

Dienstag, 6. Juli 2010

Demolition Men

Der Schreck sitzt tief. Nicht der über Gewinne oder Verluste, sondern der Schrecken der Weltmeere - nämlich der über die bösen Deutschen und was sie vermeintlich antreibt: kaputtmachen.

Denn welches Image die Teutonen in der Welt immer noch haben, zeigt sich gruseligst, wenn man den diversen internationalen Presseschauen folgt: Beim Durchlesen von Auszügen aus den Reaktionen des Auslands auf Deutschlands WM-Auftritte kann es einem kalt den Rücken hinunterlaufen. Selbst in der Bewunderung von (rein sportlichen) Siegen zeigt sich noch das Vorurteil über martialisches Militärgehabe. Da wird manch alte Vokabel oder Assoziation bemüht - und die lieben Landsleute, ganz im dümmlich-trunkenen "Schlaaand, Schlaaand"-Taumel wimpelwedelnd die Straßen verstopfend, freuen sich noch, wie gut sie ihrer Meinung nach weltweit dastehen.

Viele von außerhalb fühlen sich offenbar eher an "früher" erinnert; egal, ob dieses Früher das Militär-Preußen oder die Nazizeit sein soll. Schwer schluckt man da angesichts der militaristisch-kriegerisch belegten Vokabeln, wenn man genau liest. Falls nicht grobe Übersetzungsfehler vorliegen.

Von einem Massaker unter dem Kommando von Schweinsteiger, das Argentinien eliminiert hat, liest man da aus brasilianischen Zeitungen. Aus spanischen Medien ist von zermalmen die Rede und dem kollektiven Triumph, während etwas drolliger angehaucht auch beschrieben wird: "Wie Obelix sammelt Deutschland die Helme der Römer und zerlegt alles, was es berührt". Weniger drollig klingt es da aus der Türkei, wo poetisch, aber ebenso kriegskonnotativ gestaunt wird über fliegende Panzer und den Sturm, der aus Deutschland bläst. Noch blumiger klingen die alten Vergleiche aus Österreich, wo man an Odin und Siegfried, den Drachentöter, denkt, beide zu überkommenen Idolen degradiert und die neuen deutschen Helden gar als Killer bezeichnet. In Belgien findet man, Löw hat Maradona niedergestreckt - auch wenn das Niederstrecken dort immerhin auch als "sexy, sinnlich und innovativ" wahrgenommen wird (aha, soso, man lernt nie aus, die Erotik des Fußballs und so, das färbt gleich aufs Metzeln ab). In den USA werden netterweise eher positiv gemeinte olle Imagekamellen wie Präzision und Organisation ausgepackt (Pünktlichkeit und Gehorsam würden noch fehlen), in südafrikanischen Presseablegern nennt man die Löw-Männer mächtig (in Bangladesch neben ebendiesem aber auch skrupellos, eine Bezeichnung, die auch Südafrika schon nach dem Englandspiel parat hatte), wie sie so weiterrollen und Argentinien zerstören, in vorangegangenen Spielen schon auch mal den Krieg gewinnen. Serbien spricht geschmackssicher vom Blitzkrieg, der Messi & Co. auslöscht (ihren eigenen Sieg hatten sie aber auch schon als einen solchen tituliert; da war Deutschland in jenem Krieg gefallen), ebenso wie eine indische Zeitung. Nach dem Englandspiel hatte man auch schon in Südfrika gefunden, die Deutschen hätten England nicht nur verwüstet und zerschmettert, sondern auch geblitzt. Die Blitzkriegmetapher macht offenbar Spaß! Irgendwie kurios bei etwas so Unspaßigem. Aus England hatte es da immerhin nur geheißen, die Deutschen hätten wie eine Dampfwalze die Three Lions überrollt. Na, das klingt doch gleich behäbiger und, öhm, sanfter. Quasi nach reinen Menschenfreunden bei einem lustig-bunten, verträumten Spielreigen auf saftigem Bio-Stadiongras.

Die Fußball-WM verdrängt derzeit ohnehin schon alle wichtigen, echten Themen (Gruß u.a. an die Krankenversicherungsreform). Ok, also nehme man sie mal ernst und gehe von den Zuschreibungen aus, die ihre übertriebene Bedeutung schönzureden und zu rechtfertigen versuchen:

Der als so völkerverständigend und -zusammenbringend bejubelte, multinationale (in einer Zeit, wo viele von der Abschaffung der Nationen träumen) Wettstreit im Balltreten scheint nach wie vor doch eher Kriegsgefühle und ein "Gegen" statt ein "Mit" zu befördern und zu verstärken. Im Falle Deutschlands imagetechnisch eine frustrierende Sache. Da kann man vor den Spielen noch so viel "Say NO to racism!" und andere gutgemeinte Erklärungen gegen Gewalt und Ausgrenzung verlesen.

Dann verlasse man aber mal die (Schlacht-)Feld-Ebene und schaue sich auf Tribünen wie Straßen die nett-debilen, bierbäuchigen Grinsefans mit ihren Vokuhila-Perücken an (warum sind eigentlich die deutschen Fans immer die hässlichsten, die Fernsehkameras einblenden? Das ist furchterregend!), höre ihr gegrunzt-hirnloses, sinnfreies Party-Gegröhl und frage sich: Können diese harmlosen Irren noch gefährlich sein? Außer dann, wenn sie wieder besoffen Autokorso fahren oder freudig mit selbstgebastelten oder prüfsiegelfreien Böllern nach Menschen werfen (heieiei, eine ganze ungute Assoziation von Kriegsspiel ermächtigt sich da meiner)? Womöglich alles nur geschickte Tarnung.

Quellen für die Zitate: dpa, SID, tagesschau.de, handelsblatt.de, focus.de

Donnerstag, 1. Juli 2010

Ergebnisse der Umfrage 4: "Deutschland sucht den Superbundespräsidenten (w/m): Wenn 'das Volk' es entscheiden dürfte, wer sollte neue/r BP werden?"

Habemus papam: Weißer Rauch stieg nicht auf, als gestern abend nach gut neun Stunden Wahlmarathon und einem dritten Wahlgang um 21.12 Uhr die Farce beendet war und das Wülffchen als neuer Bundespräsident feststand. Zu wackelig war das Ganze gewesen und zu absurd abgelaufen. Dennoch feiern sich Wulff- wie Gauck-Anhänger beide als Sieger (Jochimsen-Anhänger als Trotzkis und Rennicke-Anhänger einfach als Deutsche) - und die Mitglieder der Bundesversammlung, die nicht verhungert, verdurstet oder einfach umgefallen sind, sich als Kämpfer im Dienste des Volkes.

Nebenbei hat die Medienöffentlichkeit einen neuen Star: Er heißt Norbert Lammert und wäre auch lieber Bundespräsident als Bundestagspräsident, unterhaltsam ist er aber. Blogosphäre, Twitteromania, Facebookstaat und andere Bekloppte verlangen sogar nach einer Fernsehsendung für ihn. Solange alle noch gut lachen haben, ist die Politik in Deutschland offenbar noch ganz okay.

Berlins neue Edel-U-Bahn-Linie 55, sogenannte "Kanzler-U-Bahn", die mit (bisher) bombastischen 1,8 km Länge über immerhin 3 Bahnhöfe verfügt und damit u.a. den Hauptbahnhof mit dem Bundestag verbindet, glänzte noch bis spät in die Nacht mit einer Laufschrift unter den normalen "nächster Zug in xy Minuten"-Anzeigen: "Wir begrüßen die Mitglieder der Bundesversammlung herzlich zur Wahl des Bundespräsidenten in Berlin!" - Wenn das nicht Glamour ist!

Und entsprechend glamourös war das Ganze wahrlich. Inhaltlich wie formal.
Damit keiner umkippte, musste Lammert "mit dem Protokoll brechen" und das inzwischen eingetrocknete und mehrfach ausgewechselte, wartende Buffet "schon" gegen 19:30 Uhr und damit vor dem Ergebnis eröffnen. Gerüchtehalber erschwitzten die Wahlmänner und -frauen mangels Klimaanlage und mussten zwischendrin aufs Klo gehen, wenn sie kaltes Wasser trinken wollten. Da soll noch einer sagen, das arme Berlin vernachlässige seine Bürger, aber protze und klotze, wenn es um Politiker gehe. Die werden auch nicht nur verhätschelt. Sollen ruhig mal sehen, wie es so ist in Berlin, sobald man die U55 verlässt!

Neben Protokoll, Prototypkoller, Wahl, Qual, rechnen, zechen, Moderation, Modder-Aktion, Linkspartei-Farce, Linkspartei-(über-)interpretier-Farce, Lammert-Präsentationen und dem neuen BuPrä ergab der gestrige Tag aber noch ein totales Highlight: Die Grünzeuch-Umfrage endete punktgenau. Die Ergebnisse will ich euch natürlich nicht vorenthalten.

(im Bild: Auch Christian Wulff mag Grünzeug.)

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Die 4. Umfrage war wieder ein Meinungsbarometer. Da die Inhabitanten dieses schönen Landes sich ja immer gerne ereifern, dass sie nie nach ihrer Meinung gefragt werden, nicht einmal, wenn es um einen Repräsentanten gehen soll, der "die Deutschen" verstehen und darstellen soll und daher idealiter volksnah ist, hatte es hier einen Aufruf für Vorschläge gegeben. Daraufhin folgte die Frage:

"Deutschland sucht den Superbundespräsidenten (w/m): Wenn 'das Volk' es entscheiden dürfte, wer sollte neue/r BP werden?"

Es waren Mehrfachantworten möglich - zur Ermittelung aller Potenziale für das kleinste Übel. Das war aber offenbar nicht jedem/r Teilnehmenden klar.

Teilgenommen haben an dieser wieder einmal totaaaal ernstgemeinten und seriösen Befragung nur 14 Leute (die Studienleiterin natürlich nicht, das wäre verzerrend gewesen). Angesichts der enormen Besuchszahlen auf dem Blog während der Laufzeit fragt sich die grüne Forschungsgruppe da durchaus: Ist es zu anstrengend, zwei Klicks zu machen? Oder wird immer nur nach Meinungsteilhabe gekräht, aber dann will man doch lieber keine Meinung äußern, nichtmal anonym? Wenn nur knapp jede/r zehnte Leser/in auch die Umfrage beantwortet? Und jetzt kommt mir nicht mit: "Da fehlten die Optionen 'Wir brauchen keinen Bundespräsidenten' oder 'Jemand ganz Anderes, der nicht auf der Liste stand'!" - Es bestand vorher genug Möglichkeit, Vorschläge zu machen (und wurde nur mäßig genutzt), und das Politsystemändern stand erstmal nicht zur Debatte. Vermutlich hätten bei einer solchen Option alle "Weiß nicht" oder "Brauchenwa nich" angekreuzt. Nicht sehr hilfreich bei einem Wahlmeinungsbild. Und die Mirdochejaaal-Einstellung zu unterstützen war nicht Sinn der Umfrage. Allen Teilnehmenden ein umso herzlicheres Danke!

Doch nun die Antworten:

1. "Och, der Wulff im Staatspelz ist doch 'ne ganz passable Idee."
0 Befragte

2. "Och, der zählen könnende Gauckler ist doch 'ne ganz passable Idee."
2 Befragte, 14 Prozent

3. "Och, die Luc Skywalker-Jochimsen ist doch 'ne ganz passable Idee."
0 Befragte

4. "Ich fand Zensursula von der Leyharbeit 'ne 1A Idee und weiß null, warum man davon abgerückt ist."
2 Befragte, 14 Prozent

5. "Stefan Raab, aber auch nur, weil Lena Meyer-Landrut noch nicht 40 ist!"
0 Befragte

6. "Dieter Bohlen, das gibt wenigstens geile Sprüche bei den Reden."
1 Befragte/r, 7 Prozent

7. "Joschka Fischer, der war mal beliebt und hat schon lange nix mehr gesagt."
2 Befragte, 14 Prozent

8. "Das Merkel. Da man Ämter ja nicht häufen soll, kann dann jemand Fähiges auf den KanzlerInnen-Job nachrücken."
1 Befragte/r, 7 Prozent

9. "Stoiber, das wäre wenigstens witzig! Lübke lebt!"
2 Befragte, 14 Prozent

10. "Guildo Horn, der Einfachkeit halber, weil er mit bürgerlichem Namen Horst Köhler heißt."
2 Befragte, 14 Prozent

11. "Ein/e Weizsäcker, das hatten wir lange nicht mehr."
2 Befragte, 14 Prozent

12. "Beckenbauer, dann hättenwa endlich wieder 'n Kaiser!"
3 Befragte, 21 Prozent

13. "Margot Käßmann, das gibt uns christlich-abendländische Kultur, Trinkkultur und Ehrlichkeit – und ihr sicherheitshalber einen Chauffeur."
0 Befragte

14. "Jogi Löw, sieht immer adrett aus und ist Schwabe, der spart sicher gut... wobei, warten wir die Fußball-WM ab, ich weiß noch nicht, ob ich den dann noch mag."
1 Befragte/r, 7 Prozent

15. "Matthias Richling, der kann alle(s)."
0 Befragte

16. "Heiner Geißler, für mehr Würde UND Ironie-Süffisanz im Amt."
3 Befragte, 21 Prozent

17. "Chrille Ströbele, für mehr Originalität im Amt. Ich bin auch gespannt auf das Dienst-Fahrrad mit Chauffeur."
2 Befragte, 14 Prozent

18. "Irgend'ne Frau..."
0 Befragte

19. "Genschman. Weiß nicht wieso, aber der soll doch so beliebt und toll sein."
0 Befragte

20. "Schäuble, auf dem Posten kann er nix mehr anrichten!"
1 Befragte/r, 7 Prozent

21. "Schwesterwelle, auf dem Posten kann er nix mehr anrichten!"
0 Befragte

22. "Sabine Christiansen, die kennt das Business."
0 Befragte

23. "Eva Herman, die kennt die Gesellschaft, v.a. die Frauen."
0 Befragte

24. "Was ist eigentlich mit Gesine Schwan??"
1 Befragte/r, 7 Prozent

(n=14)

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Mögliche Interpretationen der Ergebnisse:

I.) Von den tatsächlich zur Wahl stehenden (ernsthaften) Kandidaten befürworteten die Grünzeuch-LeserInnen höchstens Joachim Gauck. Das deckt sich mit anderen Umfragen im Land.

II.) Die Auswahl war offenbar zu groß für deutliche Meinungsbilder. Der Deutsche will nicht so viel abwägen. Vielleicht ist dies auch ein Grund für die geringe Mitwirkung. Möglicherweise haben v.a. viele Ostdeutsche die Umfrage gelesen - und waren dann aus alter Erfahrung überfordert vom reichhaltigen Angebot und haben das Teilnehmen bleibenlassen. Dies ließe den Schluss zu, dass die tatsächliche Politlandschaft der Bundesrepublik (nicht nur bei BP-Wahlen, sondern auch bzgl. Parteien etc.) entgegen landläufiger Meinung eigentlich sehr "ossifreundlich" ist.

III.) Franz Beckenbauer und Heiner Geißler sind die knappen Gewinner.

IV.) Vorschläge, die zuvor direkt aus der Leserschaft kamen, erzielten teils null Stimmen. Manche Menschen ändern also vielleicht häufig ihre Meinung, sind zu faul zum Abstimmen oder aber trauten dann ihrer eigenen Satire doch nicht mehr über den Weg.

V.) Wahllosigkeit aus einer dogmatischen statt inhaltlichen Haltung heraus herrscht offenbar nicht: "Irgend'ne Frau" war dann doch allen zu schwammig. Inhalte siegen, daher wohl auch die Stimmabgabe für Kaiser Franz oder Guildo Horn.

VI.) Retro-Weiber sowie Retro-Gesellschaftsbilderrepräsentanten und Helden von gestern sind out (mit Ausnahme von Joschka Fischer und Ursel von der Leyen, warum auch immer).

VII.) Kurzfristige Trends trügen: Der direkt nach Hotte Köhlers Rücktritt erschallte Ruf nach Kirchenfrau Käßmann oder der Raab-Lena-Connection erstreckt sich offenbar nicht auf die Grünzeuch-Leserschaft.

VIII.) Guido W. ist doch nicht so schlimm. Oder aber so schlimm, dass ihm zugetraut wird, sogar als (recht einflussloser) Bundespräsident noch was kaputtmachen zu können.

Um weitere Analyse-Vorschläge oder aber eine Diskussion der obigen Analyse wird grünlichst gebeten!
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