Mittwoch, 29. September 2010

Take Five

Es jazzt im Sozialstaate Deutschland: Angesichts der sehnlichst erwarteten, üppigen, vielbejubelten Hartz-IV-Erhöhung um stolze 5 Euro monatlich kommt man durchaus ins Summen, Singen und Swingen. Die einen dank plötzlich eintretender Konsummöglichkeit und Teilhabe an der Gesellschaft, die anderen, weil sie das gute und stolze Gefühl haben, endlich in einem gerechten Staat zu leben, der Würde garantiert, egal was das Schicksal mit einem anstellt. Zukunftsängste braucht nun keiner mehr zu haben. Nun wird gemeinsam und solidarisch gejammt, gefreestylet, improvisiert und Ideen zusammengetragen, was man von dieser Summe jeden Monat alles kaufen oder machen kann! Ideen finden sich etwa hier oder hier oder hier. Vielleicht kann man, je nach Gegend, dafür sogar seinen Müll loswerden. Das ist speziell interessant, falls man vorher von seinen 5 Euro (unter Zuhilfenahme der im Regelsatz dafür vorgesehenen 27,41 Euro) Berge von neuen Elektrogeräten angespart hat und nun nicht weiß, wohin mit den ganzen alten. Man könnte kochen lernen. Man könnte vom eigenen Wohlstand was abgeben und woanders eine Schulbildung finanzieren. Oder noch 95 Cent ansparen (bzw. den immensen Kulturbeitrag im Regelsatz mitnutzen - mal ein Buch!) und dafür lernen, wie man dauerhaft spart und auch noch die Welt retten kann. Gut wäre auch, nochmal studieren zu gehen und die 5 Euro davor schon für die Karriere beiseite zu legen, um Unternehmer/in zu werden und Arbeitsplätze zu schaffen. Oder man hat für die 5 Euro einfach geilen Frustabbau auf Kosten derjenigen, die noch nicht einmal Hartz IV oder sonst irgendeine Würde erhalten... Weitere Vorschläge, Rechenbeispiele und Prioritäten gerne über die Kommentarfunktion.

Montag, 27. September 2010

Herds of Nerds

Die Berliner Veranstaltungsort-Landschaft ist ein Kosmos für sich. Funktion trifft Freaks und Fete, Konvention trifft Indie und etepetete. In Friedrichshain heißt ein Teil dieses Kosmos sogar so. Kurz vor dem Frankfurter Tor sitzt das Ungetüm, das früher das größte Kino der DDR, in den 90ern dann mal Berlins erstes richtiges Multiplex war - und nun als "Wir greifen sie alle ab!"-Transformerspielzeug sein Dasein fristet; irgendwo zwischen aufgemöbelter Mehrzweckhalle, Tagungszentrum, Biergarten mit "Public Viewing" und wochenendlicher Großraumdisko für sehr junge Menschen einheitlichen äußeren Stils, die gern zu einem Mix aus House und alten wie neuen Charts tanzen und vor allem posieren.

Letzten Sonntag gab es dort ein Publikum, das deutlich vom sonstigen abwich, auch wenn es ebenfalls zu einer seltsamen - anderen - Art von Vereinheitlichung neigte; natürlich mit der üblichen "Yes, we're all individuals"-Anmutung dabei. Anlass war eine Record-Release-Party der nächsten und in diesem Falle spezielleren, da drei Teile und Versionen umfassenden, Folge der von vielen kultisch verehrten Hörspielreihe "Die drei Fragezeichen" (jaaaaa doch, die korrekte Schreibweise ist: Die Drei ???). Kongenialerweise in dieser Örtlichkeit veranstaltet; denn die Hörspiele verlegt "Europa", die dazugehörigen Bücher und sonstiges Merchandising jedoch der "Kosmos"-Verlag. Hinter der Veranstaltung steckte natürlich die Lauscherlounge, in deren Gestalt sich Justus-Jonas-Sprecher Oliver Rohrbeck quasi beständig selbst huldigt, während er regelmäßig Gutes für Hörfans und Hörspielschaffende tut.

Verteilt auf drei verschiedene Säle und unter dortiger Anwesenheit des jeweiligen Original-Detektiv-Sprechers hörten die Gäste entweder die Version von Justus, von Peter oder von Bob. Anschließend gab es im großen Saal statt Clubszene mal Blubbszene: Die drei Sprecher interpretierten als Extra-Gimmick via Bühne und Leinwand ein kleines, etwa 30-minütiges, unveröffentlichtes und nicht wirklich ernst gemeintes Livehörspiel und erzeugten teils auch die Geräusche dazu selbst. Die Ausrede, sie läsen den kompletten Text just(us) zum ersten Mal, will man mal wohlwollend gelten lassen für zunehmendes Fadenentgleiten, Aus-der-Rolle-Fallen und Wirrerwerden gen Ende. Zumal es dem Unterhaltungswert keinen Abbruch tat und diesen zweiten Teil zum eigentlich lohnenderen des Abends machte. Lohnend jedoch nicht deswegen, weil die Herren anschließend noch Tombola-Gewinner zogen.


("Record Release Party" unter kreischenden Fans. Keine Kinder.)


(Diesmal kein Weltrekord: Verglichen mit diesem ekstatischen Waldbühnen-Massengekreische war's im "Kosmos" gemütlich!)
 
Das Ganze hätte eine gelungene Veranstaltung sein können. Wäre da nicht die unsägliche Organisation seitens des Kosmos gewesen. Zum Konzept gehörte nämlich u.a. auch, die Leute per Ankündigung "Einlass ab 18 Uhr" in Kombination mit freier Platzwahl zum Frühkommen und Schlangestehen zu bewegen - und dann im strömenden Regen stehen zu lassen. Nicht etwa ein paar gnädige Minuten vor sechs öffneten sich die Tore, nein, sondern 20 Minuten später, und dann im Schneckentempo, da genau eine Tür und ein Mitarbeiter offen waren, Letzterer allerdings wohl vorwiegend rektal, speziell was pampige Reaktionen, betont langsames Tempo und dreiste Lügen ("Es ist doch seit sechs, spätestens fünf nach sechs, Einlass!" - seltsam, hätte man das, auf ebendies lauernd, nicht um 18:05 Uhr gemerkt?) anging. Als Krönung hüpfte eine vergnügte Enie van de Meiklokjes mit einem kleinen Kamerateam um die sich in mehrere Schlaufen legende Schlange herum - eine dumpfe Ahnung machte sich breit, dass im "Bericht" nur Positives, nur ein Bejubeln der beeindruckenden Zahl an Interessenten für ein solches Event auftauchen würde. Dabei hätte sich der eine oder andere zutiefst angefressene, berlinisch hervorgefluchte O-Ton aufgedrängt, und sei's als Gegenwehr gegen Enies Berufsjugendlichkeit und betont lustige Überdrehtheit.
Nach fast einer Stunde Einregnen (das hält kein Schirm aus, ohne durchzuweichen) und Pfützenstehen dann endlich im trockenen Foyer angekommen, hielt sich der Spaß leider angesichts kompletter Durchnässung etwas in Grenzen und wollte sich auch den Rest des Abends nicht bedingungslos einstellen. Der Erkältung ins hämische Antlitz zu sehen, während man auf kaltem Steinfußboden sitzt, macht irgendwie schlechte Laune. Da riss es auch die Phase im bemerkenswert gemütlichen, leider aber kühl klimatisierten Kinosessel (Raum "Peter"!) nicht heraus.

Die eigentliche Attraktion war aber ohnehin etwas anderes: das Publikum. Wie bereits angedeutet handelte es sich um eine beeindruckende Spezies Mensch. Das Thema Barrierefreiheit für Seh- und Mehrfachbehinderte mal außen vor gelassen: Schillernd belegt wurde, dass Nerdtum sich nicht allein durch Computersitzen/-spielen oder andere vermeintlich junge bzw. zeitgenössischmediale, aber das Individuum isolierende Trends auszeichnen muss. Sollten Nerds sich gelegentlich auch häufen, anstatt nur, wie das Klischee es besagt, als sozial vereinsamte Randfigur im stillen Kämmerlein vorsichhinzufreaken, so war an der Frankfurter Allee irgendwo ein Nest. Ein sogenannter Nerd-Herd. Dieser ergab eine ganze Nerd-Herde oder gleich mehrere davon. Sie versammelten sich mysteriös. Es wogte ein Meer aus Fanshirts, schüchternen Autogrammjägern, skurrilen Gestalten, Alles-auswendig-Kennern, frenetischem Bekreischen, Gruppenjubel, Devotionalienjägern, verscheuklappten Ellbogen-raus-und-durch-wohin-auch-immer-Egomanen, Einzelgängern, Einzelkämpfern, selbstgebastelten Motto-Utensilien (ein Highlight: Fragezeichen-Ohrringe aus Fimo!) und Gutenachtgeschichte-Junkies mit Hang zur Kindheitsnostalgie. Kinder indes waren so gut wie keine anwesend. Auf die zielte das Ganze auch überhaupt nicht ab, obwohl die Hörspielreihe sie ja eigentlich als Hauptzielgruppe hat(te). War die Kindheitssehnsucht echt? Es drängt sich der Verdacht auf, dass gerade auch im Bereich der sogenannten Alten Medien und vielzitierten Retro-Trends mehr und mehr ein Kult allein schon aus dem Aus-etwas-einen-Kult-Machen gemacht wird.

Montag, 20. September 2010

Aggro Benzin

Für die immerselbe Platte, die einen Sprung hat, sollte man ein neues Plattenlabel gründen: "Aggro Benzin". Dort könnte man auch lustig immer weiter Öl ins Feuer gießen (lassen). Ob Benzin oder anderes auf -zin: beides schlecht fürs Klima! Dabei erzeugt Aggression bei mir langsam Gegenaggression - gegen die Dummheit. Auch wenn diese die Dummheit wiederum ganz anderen vorwirft. Aber das liegt sicher nur am mangelnden Verständnis; mich hat sicher auch nur die migrantisch-islamisierte Welt verdooft, womöglich trotz ein paar 15% intelligenteren jüdischen Genen.

Top-Hassphrasen der letzten Zeit, die ich einfach nicht mehr hören kann (die Phrasen, nicht die Zeit):

- Man wird doch nochmal seine Meinung sagen dürfen.
- Die Wahrheit darf man in diesem Land ja nicht ansprechen.
- Die Wahrheit wird immer verschwiegen, damit wir nicht aufmucken.
- Wir leben ja in einer Meinungsdiktatur.
- Die Medien schreiben uns vor, was wir sagen und denken sollen.
- Die Medien sind alle links.
- Die Alt-68er sind schuld. Dieser Kuschelkurs hat zu nichts geführt.
- Multikulti ist doch längst gescheitert.
- Wenn mal einer die Dinge beim Namen nennt, wird er gleich in die Nazi-Ecke gestellt.
- Man ist doch kein Rassist, nur weil man mal sagt, wie es ist.
- Man muss einfach mal den Druck erhöhen.
- Er hat Zahlen für alles, was er sagt.
- Das kann man nicht wegdiskutieren. Das sind einfach alles Fakten!
- Das ist alles wissenschaftlich belegt.
- Die da oben kennen doch die Realität nicht.
- Woanders fliegt man auch raus, wenn man keine Arbeit hat, sich nicht integriert und kriminell ist.
- Das ist vielleicht nicht nett, wie er das sagt, aber es stimmt ja. Er hat es überprüft und durchgerechnet.
- Du würdest dein Kind auch nicht auf eine Schule mit lauter Ausländern schicken.
- Das ist nunmal so, dass alle immer dümmer werden. Wo soll es denn herkommen?
- Wir müssen Eliten schaffen und keine Schmarotzer mit durchfüttern.
- Die kommen doch nur hierher, weil unser Sozialsystem so toll ist.
- Die wollen sich ja alle gar nicht integrieren.
- Sollen halt arbeiten gehen und Deutsch lernen.
- Die Mehrheit steht doch hinter ihm.
- Endlich spricht das mal einer aus, was alle denken.
- Der tut mir leid, alle hacken nun auf ihm rum, das ist nicht fair.
- Sollen die Kritiker doch selber ein besseres Buch schreiben.
- Mein Nachbar/Kollege/... sieht das auch alles so, und der ist selber Türke.
- Der Sarrazin ist mutig. Sonst traut sich ja nur keiner, weil alle Angst haben.
- Wenn es alles so falsch wäre, warum ist dann das Buch ausverkauft?

Danke, Thilo, du alter Sarrazenerfürst! Allah sei mit dir!
Und mit dem plattenlabeleigenen Phrasenschwein; das sollte man jedes Mal reihum füttern lassen (auch bei nicht ganz wortgleichen, aber sehr wortähnlichen Grunzabfolgen). Vielleicht reicht das somit Gesammelte dann irgendwann, um dir armem Schlucker eine Premium-Psychotherapie zu spendieren.

Samstag, 11. September 2010

Für Ly

Penis.

Mittwoch, 8. September 2010

Glänzendes aufgelegt

Die Faszination des Bösen hat mal wieder gesiegt. Am Sonntag traute ich mich auf das Badstraßenfest, Verzeihung, auf das "Herbstfest" in der Weddinger Badstraße (whatta bad street). Zwischen mit dem Kopf nickenden, quietschenden, batteriebetriebenen Plüschhunden und den unvermeidlichen luftgefüllten Etwassen prangte Bekleidung vom anderen Stern und auch sonst ein Festival des schlechten Geschmacks.
Auf den ersten Blick war das Ganze ein gefundenes Fressen für die Multikultikritiker dieser Tage; auf den zweiten aber eigentlich mehr für die Multikultikritikerkritiker. Denn die geschätzt 90 Prozent "Menschen mit Migrationshintergrund" wirkten im Durchschnitt friedlicher, geistvoller und integrierter als die wenigen anwesenden "Deutschen" (zudem: Wie viel deutscher und am Gemeinleben interessierter kann man noch werden, als auf ein Stadtteilfest zu gehen? Auf dass die Kinder die Hüpfburg bevölkern und man sich bei Wurst, Zuckerwatte und Schlager an der Bierbühne trifft?). Ein deutsches Highlight war ein dicker, alter, leer glotzender Suffspießer, der seinen wabbelnden Bierbauch spazierentrug in einem T-Shirt mit der Aufschrift: "Ich bin Angler! Willst du meinen Wurm sehen?" Oh ja, dringend, kann mich kaum halten.

Beeindruckt hat mich aber dieser Stand mit türkischen oder arabischen Importen:
Zahnarzt-Utensilien wie Winkelspiegelchen: okay. Jedem seine eigene, praktisch angelegte Phobiebewältigung. Warum zum Geier aber ein Speculum und andere gynäkologische Folterinstrumente? Auf einem Familienstraßenfest passte das prima zwischen die Batteriehunde. Man muss also nicht mehr auf Fachmessen schlurfen, weder als Medicus noch als BDSM-Szenegänger. Das nenne ich wahre Toleranz und Integration von Subkulturen - und bin, äh, ergriffen. Vaginalapplizierte Grüße zur Wochenmitte.

Samstag, 4. September 2010

Tunnelblick (5): Das Beste aus sich herausholen

Die Welt unter Tage ist eine Welt über Grenzen. Im Untergrund sind die Menschen eine große Familie: offen, locker, zutraulich. Sie haben keinerlei falsche Scham voreinander. Auch keine natürliche (soweit in der Zivilisation noch irgendwas natürlich ist) - wie die folgenden beiden Begebenheiten aus den vergangenen heißeren Tagen zeigen.

(1)
Am Hermannplatz tummeln sich ja immer verschiedenartigste Existenzen, tobt stets das pralle Leben, positiv wie negativ; die einen Existenzen praller, die anderen nüchterner, wieder andere lebender. Auf dem Bahnsteig der U8 ist es heuer besonders voll, denn es herrscht "unregelmäßiger Zugverkehr" - und das zur morgendlichen Rush Hour. Dicht an dicht stehen in der Sommerhitze die Körper der Wartenden, während ihre Geister sich gerade mit sonstwas beschäftigen - Hauptsache ablenken von der Zeitbedrängnis, der Hitze, der schlechten Luft, dem Körper. Manche schlängeln sich durch, um nervös auf und ab zu gehen. Die meisten stehen still und atmen einfach nur schwer. Mitten hinein in diese Meute stellt sich einer, um die 40, der dem Begriff "Überhöhung" eine neue Pointe gibt. Er ist offenbar deutlich über zwei Meter groß, alle Umstehenden überragt er um mindestens einen Kopf. Das Begafftwerden und Herausragen unterstreicht er aber selbstbewusst mit einem knallroten T-Shirt, das neonfarbene Musterungen im 80er-Jahre-Stil trägt und die betont seriöse Aktentasche in seiner rechten Hand zu persiflieren scheint. Leuchtend thront die Erscheinung über dem sonstigen Menschenbrei. Der Mann ist wie eine menschliche Boje, ein Leuchtturm, ein Treffpunkt, falls jemand im Gewühl seine Kinder verlieren sollte oder seine morgendliche Weggefährten-Verabredung nicht findet. Auch für Wandertage, Ausflügler und pauschalreisende Touristengruppen eignet er sich: "Wir sammeln uns an dem großen Mann mit dem Signal-Shirt."
Plötzlich fährt dieser Blickfang, gänzlich gelassen bleibend, die nicht mit Aktentaschetragen beschäftigte, freie Hand aus - und führt den Zeigefinger zum Gesicht. Ah, der Leuchtturm wird gereinigt. Genüsslich, minutenlang, freimütig, ausgiebig, unbeirrt und vor allem beeindruckend tief bohrt er mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit in der Nase, hoch über den Häuptern, tiefgründig mal morgendlich in sich gehend - bis die U-Bahn endlich kommt. Seltsam: Die Meute drängelt zu den Türen, doch nur wenige Menschen steigen an derselben Tür ein, die der dieser anonymen Masse endlich eine Orientierung gebende menschliche Treffpunkt mit seiner linken Hand öffnet.

(2)
Probleme mit Öffentlichkeit hat auch der junge Mann nicht, der am frühen Abend U2 fährt und sich ebenfalls sehr selbstbewusst mit seiner Körperlichkeit auseinandersetzt. Ein gutes Feeling hat er dabei aber offenbar nicht so sehr, vielmehr Probleme mit seiner Hülle. Er fühlt sich sichtlich nicht wohl in seiner Haut. Extrem breitbeinig sitzt er da und belegt damit zwei Plätze, ein eigentlich ebenso häufiger wie nervtötender Macho-Habitus auf öffentlichen Sitzgelegenheiten. Über viele Minuten hinweg zupft und kratzt und sortiert er jedoch unglücklich in seinem Schritt umher, Gesichtsausdruck: irgendwo zwischen schmerzhaft, prüfend, zweifelnd, unsicher, herzeigend und stolz. Die Hose hängt tief, die Hose hängt weit - aber einengen kann sie offenbar dennoch. Oder der Sitz der Kronjuwelen ist an sich und von Natur aus einfach ständig unzufriedenstellend. Oder nur deren angemessene Präsentation? Nach geschätzt vier Stationen des verschiedentlichen, ungenierten Sortierens und Umordnens - vermutlich hat er längst Seemannsknoten fabriziert - entscheidet er sich für den Frontalangriff: Nur kurz sieht er sich um, prüft die Mitreisenden mit knappen Blicken (was war Gegenstand des Prüfens? Anzahl, Gefahr, Gaff-Faktor, Attraktivitätsgrad, Fernsehkamerapräsenz?), befindet offenbar die immerhin mittelmäßig gefüllte Bahn für angemessen unpeinlich - und knöpft kurzerhand die Jeans auf. Nach diesmal nur einer Station erfährt er Genugtuung und kann das Kratzen und Ordnen einstellen. In medias res sortiert es sich einfach effektiver. Danach guckt er auch viel entspannter für den Rest der Fahrt. Seine Boxershorts sind fliederlila und zeigen das Lächeln der Mona Lisa, nein, es ist Marge Simpson.

Mittwoch, 1. September 2010

Tunnelblick (4): Aufpassen statt anpassen!

(1)
Spät, dunkel, klebrig und ziemlich tempelhof ist es im strömenden Regen. An der Nachtbushaltestelle am Platz der Luftbrücke lassen sich zwei aufgekratzte Provinzmädels von einem ordentlich auftrumpfenden, betont lässigen Coolio um die 20 volllabern. Aus dem laut geführten Flirtgespräch ergibt sich, selbst wenn man nicht lauschen will, dass mindestens eine davon aus Bielefeld auf Berlinbesuch ist. Der Kontrast ist groß. Ihre Freundin hüpft eher tussig und overstyled in einem roten Kleid, Feinstrümpfen und Pumps durch die Gegend, sie selbst jedoch macht auf öko, alternativ, Protest und Rastafarian: Dreadlocks, Schlabberklamotten, Piercings - und barfuß. Vielleicht machen das in Bielefeld die jungen Hipsters so. Kann sein, dass es da weder Pfützen noch Dreck noch Hundescheiße auf öffentlichen Straßen gibt. Während ihre Zehen anmutig mit Matsch, Rotz, aufgeweichten Zigarettenkippen und Brackwasser spielen, gibt der Berliner ihr ganz weltmännisch Ausgeh- und Chilltipps. Als der Bus kommt, glotzt ihr nicht nur der Busfahrer hypnotisiert auf die Füße (verkneift sich aber, sehr untypisch für diese Spezies, sichtlich mühsam jeden Kommentar), sondern steigt sie nach minutenlangem, angeregtem Gespräch ohne jede Verabschiedung vom flirtenden Coolio ein. Kein Wort des Grußes und kein Blick; sein "Viel Spaß noch!" geht ins Leere. Falls Bielefeld entgegen allen Verschwörungstheorien doch existiert, dann tragen die Menschen dort leidvolle psychische Folgen ihrer ständigen Infragestellung davon.

(2)
Auf dem abendlichen, dennoch sehr schwülen Bahnsteig der U9 am Zoo muss man sich von der Masse absetzen. Die junge Frau mit dem perfekten Make-up und den Vorzeige-Boutiqueklamotten beherrscht das: Sie konterkariert ihr am Oberkörper betont businesshaftes, hochgeschlossenes Outfit (weiße Bluse, Strickweste, Blazer) mit Highheels-Sandaletten mit 10-cm-Absatz und Plateau, durch die knallrot lackierte Zehnägel blitzen und über denen sie die zu eng sitzende Stretch-Jeansleggings umgekrempelt hat, damit man auch sieht, dass das exzentrische Schuhwerk bis über die Knöchel hochreicht. Sexy. Neben einer normalen Umhängetasche trägt sie das bekannte, sehr dicke, rote Kompaktbuch (mit bunten Post-its in den lesenswerten Seiten markiert) mit sich herum, das man so schön mit Ergänzungslieferungen seitenweise nachbeheften kann - damit auch jeder weiß und sieht, dass sie Jura studiert. Die Aufschrift "Schönfelder, Deutsche Gesetze, Textsammlung" kann man allerdings nicht lesen, sondern nur wissen, denn sie ist kreativ: Von außen hat sie das Buch beklebt, eingeschlagen mit einem Stoffeinband im gleichen Rot mit selbstgebastelten Henkeln: So kann sie es - die mit Lesezeichen versehene Seitenkante nach oben - stylish als Handtasche herumtragen. In der Bahn schlägt sie das rote Täschchen auch demonstrativ auf und beginnt, mit wichtigem Gesichtsausdruck darin herumzublättern. Das Abheben von der Masse funktioniert: Die Umsitzenden bieten die ganze Belustigungs-Bandbreite von dezent schmunzelnd bis sich gegenseitig breit anfeixend; wirkt die Dame doch ebenso sehr einem Möchtegern-"Sex and the city"-Set entlaufen wie deplaziert an dieser Stelle.
Antipodisch besteigt an der nächsten Station ein Punk die U-Bahn. Kein Teenie-Modepunk, sondern ein seltener echter, ranziger, etwas in die Jahre gekommener; einer mit (natürlich!) Hund im Schlepptau, grünlich ausgewaschenem Irokesenschnitt, ausgedienten Feuerzeugköpfen als Nieten am Revers der zerfledderten Jeansweste und sowas wie politischen Einstellungen, die er mit Anarcho- bzw. Anti-Nazi-Aufnähern zur Schau trägt. Auch wenn die Bahn nicht voll ist: Sitzbänke sind ihm zu spießig. Sein Wuffi und er nehmen bequem im Gang auf dem Fußboden Platz, gegenüber der Jurastudentin, die prompt angewidert von ihrem Schönfelder aufschaut. Doch auch er hat Lektüre dabei: intellektuell, politisch, gesellschafts- und konsumkritisch! Aus seinem abgegrabbelten und mit wichtigen Statements bemalten Armeerucksack zaubert er ein zerfleddertes "Disney's Lustiges Taschenbuch" hervor, in das er sich ebenso angestrengt wie fasziniert vertieft. Faust hoch gegen das System! Mittelfinger den Spießern und Nichtdenkern!
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