Sonntag, 31. Oktober 2010

Hello, Wien!

Man kann sich ja ab und zu mal mit den vielgeschmähten Ösis solidarisieren. Nicht nur, weil auch Wien ein Monster-Hauptbahnhof-Bauprojekt hat und die kontrapunktische Gegenüberstellung mit Stuttgart 21 lustig ist (unter anderem, weil sie so hübsche Tücken birgt). Sondern auch noch wegen einer anderen Sache, die weniger mit Bahnhöfen (höchstens mit Nur-Bahnhof-Verstehen), mehr dagegen aber mit Monstern und Projekten zu tun hat: Die Schluchtenscheißer, selbst in der weltoffenen Großstadt, können laut Umfragen noch weniger als wir hier anfangen mit dem zunehmend um sich greifenden Trend, Halloween zu feiern ("Die meisten Anhänger hat Halloween der Umfrage zufolge im Rheinland." - wie das wohl erklärbar ist?). Oder auch Samhain. Oder was auch immer. Jedenfalls dieses komische Totenfest, das selbstverständlich als die nordamerikanische Variante mit Kürbissen und Gruselkram daherkommt. Jetzt noch einmal auf die böse, böse Kommerzialisierung gespuckt und auf die Neigung speziell der Jugend, einfach Party-Anlässe zu suchen! Allerheiligen/Allerseelen feiern wäre doch viel kultiger für so'n 16-jährigen Hobby-Gothicfan.

Kommerzialisierung? Party only? Ach was!
In miesester Qualität illustriert dieser bei Dämmerlicht vom Handy im Vorbeifahren gemachte Schnappschuss den Brüller des Kommerzes in einer Metropole, die unter anderem keine Faschingstradition hat und sich eigentlich nur zu politischen Zwecken vermummen mag: Vor "Deko Behrendt" in Schöneberg, einem Taschengeldgrab meiner Kindheit und dem ebenso unscheinbaren wie z.Z. einzigen wirklich bekannten Berliner Laden, der ganzjährig Dekorationen, Kostümierungen und Zubehör aller Preisklassen führt, bildete sich in den letzten Tagen wieder eine anstehende Menschentraube, als gebe es Freibier, und die Notwendigkeit einer Türkontrolle. Leider nicht mit auf dem Bild sind die geschätzt 30 Meter, die die Schlange links aus dem Bild hinaus noch weiterging. Na dann frohes Gruseln!

Montag, 25. Oktober 2010

Sternstunden

In kalten Zeiten braucht das Volk warme Botschaften.
Nüscht is' mit tanzenden Buntblättern und güldener Oktobersonne. Doch nicht nur wettertechnisch wird man erneut um den Herbst betrogen und soll wieder direkt vom Sommer in den Winter springen: Seit mindestens einer Woche (hat jemand frühere Belege? Dabei rede ich nicht von ein paar schüchternen Lebkuchen und Dominosteinen) ist es wieder so weit - die Unaussprechlichkeit naht allzu sichtbar! Jedenfalls auf dem heißen Pflaster touristisch interessanter Orte. Berlin befindet sich bereits Mitte Oktober im Deko-Rausch.




Und jetzt, wie auf anderen Volksfesten, alle laut mitsingen:

"Ein Stern, der kein Erbarmen trägt..."







Sicher steckt hinter dem frühen Folklorekitsch gezielter Psychoterror zur Mürbe(teig)machung.
Abwarten und Tee trinken!

Mittwoch, 13. Oktober 2010

Die Eleganz der Fruchtfliegen

Wie sehr doch die Mehrheitsmeinung eigenes Empfinden und Urteilen indoktriniert! Eigentlich sind sie ekelhaft. Widerliche Biester. Lästig. Ein Haushaltsalptraum, wenn auch weniger nachhaltig als beispielsweise Mehlmotten. Man darf sie nicht mögen: Frucht- oder auch Obstfliegen bzw., offiziell-biologisch, Taufliegen (mit dem gedachten Trennstrich nach dem U, nicht nach dem F, Tauf-Liegen empfiehlt sich in geweihten Becken).

Bei näherem Betrachten und Bedenken stellt sich allerdings die Frage, warum. Und ob wir da nicht einem alltäglichen Rassismus aufsitzen, der uns beispielweise eine Hummel knuffig, eine Libelle anmutig und einen Schmetterling hübsch finden lässt - während ebendiese doch, genauer betrachtet (mindestens von ihrer Unterseite her), auch nicht gerade KandidatInnen für Heidi Klum sind und mindestens die beiden Erstgenannten einem auch Schaden zufügen können.

Drosophila melanogaster hingegen sollte uns eine Freundin sein; altvertraut und ans Herz gewachsen, seit wir sie (meist in der 10. Klasse) im Biologieunterricht kreuzen sollten - sei es real oder nur auf dem Papier -, um die Mendelschen Regeln der Genetik bzw. Vererbung zu verstehen und anzuwenden am Beispiel "rotäugig und langflügelig" versus "weißäugig und kümmerflügelig".
 Wer nun ein einziges Mal - aufmerksam, empathisch, offenen Herzens und erkennend - unter dem Mikroskop in ihre in der Gefangenschaft gramgezeichneten und beschämten, vielleicht auch dadurch rotgeweinten Augen geblickt hat, erkennt diesen Ausdruck mit konzentriertem Hinsehen und gut angepassten Kontaktlinsen auch ohne weitere technische Hilfsmittel ein Leben lang stets wieder, wenn er sie irgendwo sitzen sieht: auf dem Obst, dem Gemüse, der Mülltüte, der Wand oder dem Schrank. Diesen tief ins Herz zielenden, von elegantem Pseudowimpernaufschlag begleiteten Blick kann man nicht vergessen, zeigt er doch ihr tiefes Leid gesellschaftlich geschmähter, niederer Existenz, die nur durch Nutzen für die Forschung Bestätigung erfährt, bei gleichzeitig bewundernswerter Genügsamkeit und Anpassungsfähigkeit. Bei manchen soll es Liebe auf den ersten, glasigen Augen-Blick gewesen sein. Keine Liebe, die glücklich verlaufen wird, lebt doch ein Mensch meist deutlich länger. Auch wenn es einem bei der Fruchtfliege gelegentlich nicht so vorkommt.
Ich schau dir in die Augen, Kleines.
Zur Genügsamkeit und Anpassungsfähigkeit gesellen sich bei Drosophila (nach der Schlechtschreibverform nun vielleicht Drosofila - ein lukrativer Werbevertrag für Sportschuhe würde winken, speziell, da es sechs Füße zu bestücken gäbe - hätte sie derer nur nicht so unkompatibel kleine! Aber vielleicht lässt sich da genetisch was machen, Mutation für Fortgeschrittene) noch weitere sehr bewundernswerte Eigenschaften.

Ihr kurzes Leben und ihre gesellschaftliche Ächtung nimmt sie als Schicksal hin und macht das Beste daraus. Begleitet wird dies von einer sogartigen, intensiven und darin ostseegleich schönen Melancholie, die die Erkenntnis der ungeheuer rapiden eigenen Vergänglichkeit mit sich bringt. Der Name "Taufliege" trifft, denn sie vermittelt dieselbe Mischung aus Leichtigkeit, Neuerschaffung und Beschwernis. Die Fruchtfliege leidet nicht. Sie ist. Und isst. Sie stirbt ruhig, wartend, würdevoll; summt nicht dramatisch herum oder zappelt auf dem Rücken, sie sitzt still und hört einfach auf zu leben. Sie erschafft Populationen, ja ganze Staaten, in Windeseile. Gleichsam ignoriert sie ihn, den Wind, und macht auch keinen. Die Schwerkraft hat sie überwunden. Ihre anmutige Geschwindigkeit sowie komplette Geräusch- und Mühelosigkeit, mit der sie scheinbar körperlos aus dem Stand heraus abhebt und in einem rotäugigen Blinzeln eine große Strecke zurücklegt, in ebendiesem Stil auch wieder irgendwo landet, vermittelt fast den Eindruck des Beamens, neppt die menschliche Wahrnehmung und ist nur mit purer Eleganz zu beschreiben. Die Stille, mit der ihr Leben vonstatten geht - sei es im Essen, Lieben oder Sterben -, beeindruckt. Mit ungeheurem Instinkt und lautloser Zielstrebigkeit findet sie alles vermeintlich Essbare und verwandelt es gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern im Essensprozess kreativ in etwas anderes, führt es in einen neuen Seinszustand über, skulpturiert es. Drosophila macht Kunst und ist immer in Bewegung. Selbst wenn sie stillsitzt. Es bewegen sich dann ihr Geist und ihre karmaseitig hell leuchtende Seele. Das Denkwerk, drosophilosophische Theorie, ist leider nie überliefert worden, da sich niemand die Mühe macht, ihre geräusch- und gebärdenarme Sprache zu lernen, und abstrakt oder telepathisch kein Mensch je ihre Ebene erreichte.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Freistunde

Sushi ist lecker. Viel Sushi ist viel lecker. Im Idealfall zumindest. Dieses komische Ding namens Kultur hängt eigentlich auch noch mit dran, aber (nicht nur) der Deutsche tickt gern nach dem Prinzip "Quantität vor Qualität". Glück ist, wenn sich beides nicht ausschließt. Beim All-you-can-eat-Buffet benehmen sich aber Zeitgenossen gern mal daneben. Ellbogengesellschaftsartiges Hamstern pro Buffetgang, sobald etwas Neues hingestellt wird, nach dem Motto "Nach mir die Sintflut" sowie streng nach dem wissenschaftlichen Forschungsinteresse "Wie viele Happen lassen sich auf einem Miniteller stapeln?", ist auf der Tagesordnung. Auch das ist ein Grund, es sich mal anzutun: Denn man kann dabei hervorragend Menschen studieren.

Teil eines lecker-bunten Treibens waren jüngst neun(!) an einen Tisch gequetschte, sehr junge AsiatInnen; mutmaßlich SchülerInnen oder Frischlingsstudis. Sie tranken nichts, plünderten nur das Buffet. Während ihres höchst geselligen Futterns und Quasselns ließ sich rätseln, welcher Herkunft sie waren; Efeu tippt aufgrund Tonfall und Physiognomie am ehesten auf KoreanerInnen (3 betont süße Mädels, 6 zum Teil beeindruckend nerdige Typen). Ihr Stimmgewirr blieb konstant angeregt sowie rätselhaft. Um kurz vor 21 Uhr richtete plötzlich einer, offensichtlich der hier Lebende und von den anderen Besuchte in der Gruppe, angesichts des lange nicht mehr nachgefüllten Buffets auf Deutsch eine - zunächst sehr höfliche -, Frage gen Tresen hinüber an den Küchenmeister: ob da nicht noch anderes Sushi nachkommen werde?! Dieser machte eine abwehrend-abwinkende Geste und verneinte knapp. Wie aus der Pistole geschossen kam es da in bestem berlinischen Stil (Wortwahl, Tonfall, Spontaneität, Bissigkeit, Ironie und Humortyp) - Sarrazin wäre vielleicht begeistert über so viel Integration - vom jungen Gast zurück: "Oh, schön! Bis 22 Uhr is offen, dann hamse ja jetz 'ne Stunde frei!"
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