Freitag, 11. Februar 2011

Tunnelblick (7): Nase voll

Wie sie alle jammern über ihren Schnupfen! Schnupfen, der "gerade rumgeht". Statt sich zu freuen, dass keine schlimmeren Dinge, etwa die Nachfahren von H1N1, sie erwischt haben. Und statt sich an des Schnupfens Gnade zu ergötzen; jedenfalls, wenn es sich nicht um fließende Ware, sondern eher um stopfende handelt. Denn manches bleibt einem doch erspart auf diese Weise.

Manch einer staunt da noch. Auch und gerade in öffentlichen Verkehrsmitteln, auch denen des Personenfern-, nicht nur denen des -nahverkehrs. Und doch gehören die vielgerühmten olfaktorischen Belastungen zum Alltag. So sehr, dass Efeu sich eigentlich nur noch über wenig wundert. Alles kennt sie - kennen alle Fahrgäste - aus der U-Bahn: Schweiß. Hähnchen. McDoof-Plastikaroma. Döner. Anderweitig Knoblauch oder Zwiebel. Billiges Bier. Urin. Kotze. Alkfahne. Zu viel Parfum (oder das falsche). Erkältet. Diffus ungewaschen. Nasser Hund. Furz. Auch Kombinationen, etwa Furz von nassem Hund in Symbiose mit Alkfahne von schwitzendem Herrchen.
Jüngst aber etwas anderes, das schockte, weil es so unerwartet kam, so selten ist. Im Vorbeigehen, huch, da war es! Starker, unverkennbarer, stechender Geruch nach ... Eiter. Bzw. im stevejobsenden Hype angekommen heißt das Zeug nun vermutlich iTer. Heftig, bohrend, scharf, aufdringlich, intensiv und beängstigend. Das Irritierende war in diesem Fall, neben dem Ekel, dass dieser Geruch nicht von jemandem ausging, der schon auf die ersten, optischen, gut gepflegten Wahrnehmungsvorurteile hin ganz offenkundig verwahrlost war oder krank oder hilfebedürftig. Sondern von dem, was gerüchtehalber manche selbsternannten Szenemenschen mit "Stino" (von "stinknormal") bezeichnen; von einem Stino, der sich augenscheinlich zudem recht wohlfühlte. Gemütlich stieg er ein und setzte sich; ein durchschnittlicher Mann, offenbar auf dem Weg zur Arbeit, Hemdkragen unter dem Pulli, Aktentasche auf dem Schoß ablegend - las sodann friedlich eine Zeitung (ok, das ist heutzutage nicht mehr normal. Für die, die sich nicht mehr erinnern oder es nicht mehr selbst erlebt haben: Das sind diese raschelnden, meist etwas unhandlichen Dinger aus Papier mit Informationen darin, die der Bildung, teils auch dem Sensationsheischen, in gewissen Fällen auch der Meinungsmache dienen, in diesem Falle war es ein Exemplar von der Bildungsfront). Er wirkte friedlich, schmerzfrei und sich nicht im Mindesten bewusst, wie er roch und dass er offenbar ein massives gesundheitliches (und gesellschaftliches) Problem hatte.

Der Tunnelblick gilt also diesmal dem eigenen Leiden, Ekeln, Sich-für-eigene-Vorurteile-Schämen, Wundern (es gab Gerüche, die man noch nicht gewohnt war!?), ... und nebenbei auch dem Ratlos-Sein. Denn wie verhält man sich? Sollte man denjenigen auf die drohende Gefahr hinweisen? Aber was sagt man da? Vorschläge: "Entschuldigen Sie, es geht mich zwar nix an, aber eventuell sollten Sie dringend einen Arzt Ihres Vertrauens aufsuchen"? Missverständlicher: "Ey, bissu krank, Alter"? Oder gar, egozentrischer: "Dein Geruch macht mich krank"? Oder schlicht beschreibend: "Ich hab sowas von die Nase gestrichen voll"? - Bei Letzterem wäre, je nach Bedeutungs- und Naseninhalt, noch über die wertenden Zusätze "leider" respektive "zum Glück" nachzudenken.
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