Montag, 4. September 2017

Das große Gähnen

Der Politikverdrossenheit huldigt die Autorin normalerweise genauso wenig wie einer generellen Medienschelte. Nicht nur wegen unzulässiger Verallgemeinerungen: Begriffe wie "die Politiker" oder "die Medien" und auch das ganze "Die da oben verarschen uns doch alle nur und es ist eh alles dasselbe"-Gejammer fand sie schon immer Verblödungsbelege, die einer Sachdiskussion oder Ursachenforschung wenig dienlich waren. Denn damit macht man es sich meist zu einfach und hält sich nur vom differenzierten Denken ab, leugnet außerdem seine eigene Rolle und Verantwortung im Diskurs und in der Mediennutzung.
Gestern aber verspürte auch die Grünzeuch-Autorin es: dieses sogartige Gefühl von Nihilismus, Breitband-Resignation, Langeweile, Deprimiertheit und Mit-einer-Soße-übergossen-Werden. Die Soßengarnitur zum Einheitsbrei hat dann auch mal Medienschelte verdient. "Daten, Zahlen, Fakten": Zwei Kanzlerkandidierende, vier Fragende bzw. Moderierende, fünf live übertragende Sender, über 16 Millionen Zuschauende und null Spannung oder Substanz.
Das "TV-Duell" zur Bundestagswahl zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Herausforderer Martin Schulz war kein Duell. Es war unfassbar langweilig und punktlos. Da konnten "Statistiken" aus hektischen Telefon-Zuschauerbefragungen (verschiedene Auftraggeber, verschiedene Institute und Instrumente, verschiedene Ergebnisse – meist lag Merkel vorn) nur erstaunen: Wo sahen die befragten Leute denn da Unterschiede zwischen den beiden? Hatten sie womöglich eine ganz andere Sendung verfolgt? Lebe ich in einer anderen Realität? Beginnt bereits der Wahnsinn?
Lustig hätte es werden können mit einem Bingo-Spiel: Wer jedes Mal, wenn eine/r der beiden Kontrahenten, die keine waren, "Europa", "europäisch", "gemeinsam" oder "ich bin dankbar" sagte, einen Schnaps getrunken hätte, dem hätte sich vielleicht ein lustiger Abend geboten – und inhaltlich wäre ihm in dem Zustand auch nichts entgangen. Tanken beim Danken: Ich bin dankbar für Ihre Frage. Ich bin dankbar, dass ich das sagen kann. Ich bin dankbar, dass Sie das sagen. Prost.

Das Tragische daran ist, dass es nicht nur an den beiden Politpersönlichkeiten lag. Auch, aber eben nicht nur. Die Fragen waren teils so absurd populistisch oder im besten Falle schlicht, dabei aber zugleich so langweilig, unerhellend oder wenig hilfreiche Vorlagen gebend, die vier ProfilneurotikerInnen auf der Journalistenseite so unpointiert, einander ausstechen wollend und dabei doch unobjektiv (allen voran der rechtstendenziöse Strunz, der einfach nicht auf diesen Posten passte) und das Ablaufkonzept war so starr und leblos, dass man sich durchaus fragen muss:
1. Was um alles in der Welt sollte das bringen, und wem?
2. Wie spiegelte das denn das angeblich so große Zuschauerinteresse aller politischen Couleur?
3. Warum musste das vermeintlich seriöse gemeinsame Format von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern denn AfD-Wahlhilfe betreiben?
Denn so wirkte es streckenweise. Dieses Unwohlgefühl wurde immer stärker. Zuallererst und dann ewig lang, weit über ein Drittel der Sendezeit, wurde nur über Flüchtlinge und Zuwanderer gesprochen. Ja, das ist ein wichtiges Thema, aber doch nicht das oberwichtigste und einzige – dieser Auffassung sind wohl nur die Rechten unter den Nicht- oder Protestwählern. Die mögen sich bestätigt gefühlt und die Debatten trotzdem nicht verstanden haben. Zugunsten dieser Priorität fielen etliche wichtige Themen alltäglicher Lebensrealität ganz hinten runter. Eigene Schuld von Merkel und Schulz, findet hinterher Sandra Maischberger, denn die hätten ja kürzer antworten können. Nur, dass sie das niemand im Studio ließ; und die Rückfragen trotzdem weder zur Erhellung noch zur Präzision beitrugen. Menscheln durfte es dabei nicht (iih, das wäre ja spannend gewesen), außer bei den angenommenen Leuten da draußen, die alle natürlich wieder mal "besorgt" waren. Die AfD jubelt.
Sie kriegte auch gleich noch eine neue Antwort, was "deutsche Leitkultur" ist: Geld und Nutzen und ein klares Gut/Böse-Schema. Denn ultrakurz wurde dann noch schnell abgefragt, ob man Homosexuelle wirklich okay findet, ob Trump und Kim und Erdogan ganz doll viel sehr böse sind, ob Familien mehr Geld bekommen, ob man bis "alt" oder bis "sehr alt" arbeiten muss und ob beide mal in der Kirche waren. Mir fehlen die Worte.

Zum Ausgleich gab es danach querbeet auf allen Sendern tiefgreifende Analysen über Überzeugungswerte. So etwa in der ARD-Talkrunde von Anne Will, in der aus völlig unnachvollziehbaren Gründen auch Karl-Theodor zu Guttenberg und Thomas Gottschalk saßen. Was sollte das? Was sollten die dort? Wer hatte etwas davon? Wo war da der Analyse- oder Identifizierungs-Mehrwert? Ach so, ja, klar, Gottschalk ist einfach nur ein unentschlossener Wähler. Hat sich auch in der Vergangenheit sehr als unvoreingenommen gezeigt. Sicher sehr exemplarisch für viele da draußen im Land, quasi repräsentativ. Denn die Deutschen sind ja ein Volk von lauter millionenschweren, berühmten Medienprofis, die den größten Teil der Zeit in den USA leben. Wenn das nicht zu Repräsentanz und Expertise qualifiziert!

Der Verdacht von großangelegter Satire drängt sich auf. Allerdings war es dazu zu wenig unterhaltsam.
Setzen. Sechs.

Montag, 28. August 2017

Socken rocken

Musikalisch stand Rudi Carrell Pate. Da stöhnen sie wieder alle und jammern: "Wann wird es mal wieder richtig Sommer?". Nur, weil es manchmal ein bisschen wechselhaft und Berlin entweder düster oder eine Dampfsauna war. Heulsusen! Einige sind da aber auch stur: "Wenn es eigentlich zu kalt is', trag' ich eben trotzdem Sommersachen und modifizier' sie etwas." Das Klischee lebt: Für eine solche Trotz-Garderobe wird man vermutlich nur in Deutschland (und hier am besten in der Hauptstadt der bizarr Gekleideten) fündig.
Kein Tourist (es fehlt die Jack-Wolfskin-Jacke).
Ein Berliner auf dem Weg zur Arbeit.
Feinster Businesslook in der S-Bahn.


Berlin kennt sich mit Mode eben aus.

Vielleicht sollte man bei der Musik eher Ina Müller heranziehen. Der kann man für ihren legendären Songtextreim "Nordrhein-Westfalen in Sommersandalen" ("Hoffentlich ist der Sommer bald vorbei / dann tragen sie Socken / bis Ende Mai") stolz entgegenschmettern: Sch*** auf NRW und auch auf Schleswig-Holstein und Hamburg: In Berlin leben die totalen Styler, hier tragen sie immer Socken, auch zu Sommersandalen!

Samstag, 26. August 2017

Zitat der Woche (39)

Aus dem Tonfall eines Dreijährigen, der die Frage beantwortet, ob er außer seinen beiden Lieblings-Freundinnen in der Kita noch andere Freunde habe, vielleicht auch Jungs, klingt neben Nachdruck auch deutliche Besorgnis:
"Ja, aber ich muss doch auch für später eine Frau finden!!"

Freitag, 25. August 2017

Rauch kann ich auch

In einer Stadt wie Berlin gibt es nichts, was es nicht gibt. Selber brauen, selber nähen, selber fotografieren, selber alles, aber bitte immer mit fachlicher Anleitung und zertifiziert! Den Trend zum identitätsstiftenden, kreativen, pseudo-ökologischen, back-to-the-roots-mäßigen, hipstertauglichen, Hobbies-machen-glücklich-schreienden, "handgemacht ist immer qualitativ besser"-Grundsatz-gläubigen Selbstverwirklichungs-Workshop hat nun auch die Quarzerei-Branche erkannt. Ob "Namen sind Schall und Rauch" oder "Hans Dampf in allen Gassen", es geht um Expertenstandard und Fachwissen. Trotz High Tech und trotz strengerer Nichtraucherschutzgesetze: Nach Craft Beer kommen jetzt Craft Cigarettes! Und das ausgerechnet in einem Laden für E-Zigaretten:
Selbstwickel-Kurs: gesehen im Neuköllner Kindl-Boulevard
Beim "Selbstwickel-Kurs" geht es mutmaßlich nicht um Babies. Aber wer weiß.

Gewusst wie! Da nicht jeder alles weiß und manches wohl nicht (mehr) intuitiv zu sein scheint, sondern von Profis beigebracht werden und mit Zeitaufwand erlernt werden will, muss es Anleitungen für alles geben – ob auf Youtube oder in dem, was manche "das echte Leben" nennen.
Demnächst an einer Universität, Fachhochschule, Volkshochschule oder sonstigen Bildungseinrichtung Ihrer Wahl: "Einführung in die Rauchwissenschaft I: Zigaretten selbst wickeln – Geschichte, Theorie, Materialentwicklung, heutige Lebenspraxis und Forschungsstand". Tutorien und Praxisseminare sind in Planung. In einem dritten Modul gibt es dann: "Rauchen ja, aber bitte mit Öko-Siegel!", für das allerdings keine Leistungsnachweise angeboten werden. Und berufsbegleitend kann man (dank VHS und dank freikirchlichgeistiger Gurus wie dem vom oben abgebildeten Handel unterstützten) natürlich auch noch in höherem Alter einsteigen. Wenn die Lunge danach verlangt. Und man sonst kein Hobby hat.

Freitag, 16. Juni 2017

Müll, Geröll, Gebell

Es ist nicht neu: Berlin ist nicht nur cool, Berlin ist auch schmutzig. Hundekot, Abfall, Sperrmüll und Schmutz beschämen oft das Stadtbild, beißen sich mit den Hochglanzprojekten und Schnöselarealen, verderben so manchem die Freude an der bunten Metropole. Dreck, Essensreste, Fallengelassenes, Einweggeschirr, alte Möbel, ausrangierte Technik & Co. finden sich an Straßen, in Parks, an Seen. Nichts scheint gegen illegalen Sperrmüll zu helfen, auch nicht gegen Party-People-Hinterlassenschaften. Irgendwie meint man, andere Großstädte bekämen das besser hin, hätten die besseren Maßnahmen, die besseren Tierhalter, die besseren Bewohner, die besseren Besucher. Und das gilt in den Stadtrandbezirken teils ebenso wie in der von "Durchgangsverkehr" gebeutelten Innenstadt.

Wenn das Maß voll ist:
gewissenhafter Müllabwurf
 in Griffweite des überquellenden Eimers
gestapelt, beim KdK, Pfingsten 2017.
Gegenmaßnahmen? Die Stadtreinigung BSR, dank gewiefter Werbeagentur Meisterin der lustigen Wortspiele, stellt bei ihrer Aktion "Kehrenbürger" sogenannte "Kehrpakete" zur Verfügung (Warnwesten, Besen, Greifzangen, Handschuhe und Mülltüten) und entsorgt später die Sammlungen, wenn Hobbyschwaben und Schöner-Wohnen-Sehnsüchtler mit Kind und Kegel ihren Kiez selbst säubern wollen. Um Ökologie geht es dabei nicht, nur um Wegräumen. Gegen Wauwaus Kacke wurde letzten Sommer im Berliner Hundegesetz eine Beutelpflicht eingeführt, die mit Bußgeld droht, aber nicht greift: Solange nicht kontrolliert wird, das Personal fehlt, wirkt sich das Beutel-mitführen-Müssen ebensowenig aus wie das Kot-beseitigen-Müssen, auf dessen Missachtung es schon lange Bußgelder gibt. Und Müllabwurf-Rekordhalter Neukölln listet, beinahe prahlerisch, seine "15 Hotspots der Vermüllung" (sollen es Tipps sein? Oder Stationen zum Sightseeing?) als Galerie der größten Gemeinheiten: Gut die Hälfte der per App gemeldeten Ordnungswidrigkeiten im Bezirk seien illegale öffentliche Müllvergehen, so Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), und oft handele es sich um den "Hausrat von Menschen, die in Berlin nur auf der Durchreise sind". Da lacht das berlinische Herz: Also wir sind dett ja nich, dett sind ümma die anderen, die blöden Touris und so, siehste. Nur doof, dass weder Fahndungen noch Patrouillen noch höhere Bußgelder noch Imagekampagnen das Bewusstsein ändern. Ob es hilft, sich den Dreck auf der IGA mit einer "begehbaren Müllskulptur" zu euphemisieren? Oder sich spießbürgerlich zu echauffieren?

Schön zu wissen allerdings ist: Zumindest auf einem der größten regelmäßigen Müll bzw. Wegwerfgeschirr produzierenden Events, dem Karneval der Kulturen, herrscht Plan im Chaos und eine gewisse Gewissenhaftigkeit bei manchen, wie das obige Rückblickfoto belegt. Kreuzberg weiß eben noch, wie man ökologisch nachhaltig Müll produziert und entsorgt – und den Reinigungskräften wenigstens die Arbeit erleichtert, wenn schon der Eimer belegt (oder das Fass zum Überlaufen voll) ist. Hach! Die Welt ist gut!

Mittwoch, 14. Juni 2017

Tunnelblick (16): Elsa, Belle, Arielle, Aladdin, Simba und die anderen

Der trotz Gentrifizierung immer abgeranzter werdende Hermannplatz ist immer wieder für eine Überraschung gut. Aus den Absurditäten des dortigen Mikrokosmos' ober- und vor allem unterirdisch mit seinen aufeinanderprallenden Gegensätzen sei exemplarisch und sehr anschaulich machend folgendes Setting herausgegriffen:

Auf dem U-Bahn-Steig ganz unten, bei der U7, stinkt und klebt es wieder, wie immer. Außerdem schieben sich die zwischen U8 und U7 umsteigenden Menschenmassen teils genervt und hektisch gegeneinander, wie immer. Sie drängeln sich an, in und um viel zu volle Bahnen bei viel zu hoher Temperatur. Gibt es dort eine Menschentraube, ist sonst meist eine Schlägerei oder Gepöbel der Hintergrund; manchmal auch das allseitige Einen-Bogen-Machen um olfaktorisch belastende Verwahrloste; seltenst aber eine der etlichen Musikdarbietungen, die in Bahnen, auf Bahnhöfen und auf Straßen Berlins normalerweise längst keinen Hektiker mehr hinter dem Ofen (oder im Sommer: hinter dem Freibad) hervorlocken.
Anders ist es allerdings, wenn ein schlanker Jüngling, die Klavierbegleitung aus der Konserve neben sich aufgebaut, auf seiner Querflöte(!) extrem hingebungsvoll und herzerweichend Disneys diverse Filmballaden spielt. Die kennen sie alle: die Alten und die Jungen, die Männer und die Frauen, die Hipster und die Coolen, die Geschäftigen und die Arbeitslosen, die alteingesessenen Neuköllner Prolls oder türkischen Mamis und die zugezogenen Studierenden, Kreativen, Geschäftsleute, die Flüchtlinge und die Sozialarbeiter, die Verzweifelten und die Hoffnungsvollen. Da stehen sie alle dicht gedrängt und mauloffen, atmen tief, auch wenn es stinkt, lächeln verklärt, andächtig, summen teils mit: A Whole New World. Geld gibt natürlich keiner, denn hier hat ja keiner welches, aber es gibt tatsächlich Szenenapplaus. Und die lang ersehnte, weil mehrfach ausgefallene, endlich einfahrende U-Bahn wird von vielen ausgelassen und die nächste genommen. Ist ja eh rappelvoll. Und die Musik grad so schön entrückt. Die stressige Realität kann noch einen Song lang warten.
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